Mittwoch, 22. Juni 2011
Melbourne II – der alte Mann.
Von einem Sportfilmfestival – unter anderem mit Ueli Steck – zurückkehrend, ergreift mich der rasende Hunger. Kaum habe ich Sumukh, Guy und Gintarė zum Abschied gewinkt, gurgelt mir mein Magen vorwurfsvoll ein unverkennbares Hungersignal. (Ja, "jemandem etwas gurgeln" ist ein fachmedizinischer Begriff ;) ) Er verlangt nach Fleisch. Und obwohl ich diese Tage oft an anderes denke, ergreift dieser Wunsch von meinem Kopf Besitz und lässt ihn nicht mehr los. Das Ziel ist schnell gefunden, ein "Grill'd" fast um die Ecke. Grill'd ist eine Burgerkette, die aber im Gegensatz zu McDonalds und Konsorte auf edle Zutaten und Qualität setzt, und sich ausserdem um die Umgebung kümmert. So etwas unterstütze ich gerne.
Da mir aber gar nichts an den Chips (Friets) liegt, und auch nicht an dem Brötchen, das sich zwar sicher ganz knusprig und genüsslich gibt, aber dessen Fleischgehalt zirka bei 0,01% liegt, frage ich nach, ob ich auch "einen Burger ohne Chips" haben kann. "Sure." Ohne gar nichts? "Without salad?" Ja. "Without tomatoes?" Ja … ihr dämmert es langsam: "Without anything, just the patty?" "Yes…", sage ich, das Wasser im Mund zusammenlaufend, "is that possible?".
Eine halbe Minute später sitze ich mit einem dieser Bestellzahlengestelle an meinem Platz. Schon beim Eintreten fällt mir ein alter Mann auf, der gerade seinen Hamburger bekommt. Als ich warte, stehle ich mir ab und zu einen Blick zu ihm herüber. Noch beisst er nicht hinein. Nein, er wartet, die Hände gefaltet, blickt mit wehmütigen Augen den kunstvoll aufgeschichteten Hamburger vor ihm an, den Grill'd Standardburger. Der Mann sieht etwas verwahrlost aus, sein T-Shirt hängt über seinen Körper, ein grosser Bart bedeckt sein rundes Kinn. Selten aber habe ich freundlichere Augen gesehen.
Ich habe es vermutlich schon viermal erwähnt, aber ich bekomme immer Mitleid mit alten Männern mit Bart. Woher das kommt, ist mir schleierhaft, vermute aber, dass ich als Kind einfach zu oft das fantastische Zwergenbuch gelesen habe. Andere fallen in den Zaubertrank, ich lese ein Buch zu oft. Und so hat ein jeder eine Superkraft. Und als ich ihn so superkräftig mitleiderfüllt ansehe, merke ich plötzlich, dass er mich ansieht. Einem ersten Reflex, wegzusehen, nicht folgend, drücke ich beide Augen zu und nicke kurz. Er nickt ebenfalls und wendet sich wieder seinem Burger zu, dem er sorgfältig den brotenen Deckel entfernt, zur Seite legt, und ihn bedächtig in Teile zerschneidet, die er langsam und ruhig kauend, eins ums andere vertilgt.
Hinter dem Tresen lachen sich die Teenager, die das Fleisch zubereiten, gegenseitig lauthals zu. Vielleicht gibt es andere Grill'd, aber in diesem an der Lygon Street ist die Bedienung stets fröhlich und gut gelaunt. Immer ein gutes Zeichen: Zieht die Bedienung einen Flunsch, kann es gut sein, dass das Essen auch nicht so gut wird. Eine glückliche Bedienung heisst oft auch gutes Essen. Und wenn die Regel nicht stimmt, so glaube ich wenigstens daran. Für mich allerdings bedeutet diese Glücklichkeit, dass es mit dem Essen noch länger dauert.
Mein Magen meldet sich schon wieder. Für ihn ist es ja einfach, muss nur warten, bis das Gehirn die Beine schwungvoll den Gang einlegen lässt, um schliesslich die Hand zum Geldbeutel zu führen und die gewünschte Ware durch den Schlund in Empfang zu nehmen. Als Reaktion auf den Magen wende ich meinen Blick wieder gen links, wo der alte Mann, sich die Lippen langsam mit einem Taschentuch abtupft, bereits durch die Schichtung beim Fleisch angekommen ist. Beim Fleisch, das immer noch nicht vor mir steht. Wieder bemerkt er mich, blickt kurz auf die leere Stelle vor mir, wo eigentlich ein Teller stehen sollte, blickt zu mir auf.
Und zuckt mitleidig mit den Schultern und wendet sich wieder seinem Fleisch zu. Schmunzelnd stütze ich meinen Kopf auf dem rechten Arm auf und denke an diese Stunde um 11 Uhr Abends, an der solche magischen Mimenspiele möglich sind.
… und jetzt, an meinem Pult sitzend, fehlt mir doch das Brötchen, das ich mir aber schon bald beim Beck um die Ecke holen werde. Sobald es mir mein Magen befiehlt.
Falls es aber so weitergeht, gurgel ich ihm bald etwas! ;)
Sonntag, 19. Juni 2011
Melbourne I
Viel ist seither passiert – bereits quer durch die südöstliche Ecke des Kontinents gekurvt, mit Rädern in unterschiedlichem Zustand über das was man hier "Radweg" nennt geholpert, und mir ein neues Hobby, Klettern, angeeignet. Nebenher mich durch die Administration der Universität gehangelt. Von Liane zu Liane, diverse Affen angetroffen ;) – aber auch etliche hilfreiche und liebenswürdige Leute.
Ich weiss gar nicht, wo ich beginnen soll. Nur schon die Adjektive der ersten zwei Monate aufzulisten, würde eine Monitorseite füllen. Spannend, ja, interessant, ja, abenteuerlich, sicher, aber auch stressig, in der Tat, oder schlaflos, das auch.
Als erstes quartiere ich mich im Future Hotel ein – eine Jugendherberge, die laut Webseite "eben erst gerade frisch renoviert wurde", inklusive Kino, Bar, und Sportzentrum. Und das für nur 28 Dollar pro Nacht! Als geborener Optimist und glücklich, so einen guten Fang gemacht zu haben, reserviere ich gleich 17 Nächte darin. Zu einem gar kurzen Glücksgefühl kommt später frei Haus noch ein grösserer Lerneffekt dazu: Die Webseite wurde nämlich in der Zukunft geschrieben. Zwar wurden im Kino sehr bequeme Stühle montiert, und sie zeigen auch alle zum Glück in die richtige Richtung, aber dennoch fehlen entscheidende Komponenten: Die Leinwand und die sich bewegenden Bilder. Die Bar wird in groben Zügen durch einen Hohlraum im ersten Stock umrissen, so dass man das Gelächter und die klirrenden Gläser gut erahnen kann. Am vollständigsten gibt sich der Kraftraum. Die meisten Geräte sind zu 90% fertiggestellt, es fehlt oft nur der Sitz. Der Preis für das vollständigste Gerät geht aber an die Brustpresse, bei der eigentlich nur das kleine Metallteil fehlt, mit dem man das Gewicht einstellt. Und so quäle ich mich (mental) durch mein langweiligstes Krafttraining: 250 Wiederholungen à 2,5kg.
Im Viererzimmer lerne ich einige interessante Charaktere kennen: Der deutsche Anwalt, der einfach mal so nach Australien gekommen ist, und Tag und Nacht nach einer Wohnung in Melbourne sucht. Damals belächle ich ihn ein Bisschen, denkend, dass es doch nicht so schwer sein könne, eine Wohnung zu finden. Fast fällt er auf einen hier alten Trick herein: Eine sehr nette Anwältin, die nach London gezogen ist und eine unglaublich tolle Wohnung in der Mitte von Melbourne besitzt. Leider kann man sie nicht ansehen gehen, dafür aber kostet sie nur 700 Australische Dollar pro Monat, was ziemlich genau 700 Schweizer Franken entspricht. Zwei Monatsraten sind fällig, auf einen etwas dubiosen Service. Nach einiger Nachforschung finden wir heraus (Bildähnlichkeitssuche), dass das Logo ihres Anwaltsbüros von einer anderen Australischen Kanzlei gestohlen ist, genau so der Name – und alle Unterschriften sind gefälscht. Wir machen uns natürlich die nächsten 5 Tage einen Spass daraus, immer faaast einer Geldüberweisung zuzustimmen.
Oder der Chinese, der entgegen den Wünschen seiner Eltern nicht Buchhaltung studieren will, sondern Literatur, und daher fast die ganze Zeit frustriert im Zimmer sitzt. Als er sich an Abend vor seiner Rückreise beklagt, dass man hier in Melbourne kein gutes asiatisches Essen finden kann, staune ich ihn nur entgeistert an. Minutenlang, will ich fast schreiben, denn es fühlte sich so an. Es folgt ein lustiger Abend im hiesigen Chinatown mit einem dankbaren Chinesen.
Eine Beschreibung des jungen Australischen Pärchen bleibt euch leider vorbehalten, da ich nicht viel mehr dazu sagen kann, als dass dessen Hobby darin bestand, mich kichernd mit rhythmischem Schütteln des Etagenbetts in den Schlaf zu wiegen.
Ein Schlaf, der, so unterhaltsam er oft umrahmt ist, jeweils auch ziemlich seicht und kurz bleibt, da um 6 Uhr 30 die lautstarken Bemühungen beginnen, das Hotel der Webseite anzugleichen. Ich geniesse aber die menschenleeren Morgen, die ich oft mit einer riesengrossen Tasse Milchkaffee in der italienischen Bar in der Nähe verbringe. Nach zwei Wochen im Future Hotel wechsle ich ins Graduate House.
Nach einiger Zeit am neuen Wohnort holt die Realität die Webseite ein und mit einem müden Blick beäuge ich letztens den ehemaligen Hohlraum, aus dem nun Gelächter und das Geräusch von klirrenden Gläsern entströmt. So geht das.
Mittwoch, 6. April 2011
Reise nach Melbourne
Nach einem kurzen aber schönen Abschied (Danke!) mit der Ergon Clique, meiner Schwester, und last but not least Conni geht es los: Als erstes nach Amsterdam/Schiphol.
Schiphol ist für mich der benutzerfreundlichste Flughafen – das heisst, je nachdem. Finden tut man alles, und zwar sofort. Alle Tafeln sind gross angeschrieben und von weitem sichtbar. Sogar die Karten sind immer so gedreht, dass oben auf der Karte immer die Richtung nach vorn angibt. Wanderfreunde und Marathonläufer sind auch bestens bedient. Mittels gelber Wandertafeln wird die benötigte Laufzeit von hier zum Terminal soundso angegeben. Bei mir, von Terminal B nach G sind es nur unwesentlich nennenswerte 25 Minuten. Zwar startet man frisch fröhlich mit der typisch modernen Reisestellung – ein Arm nach hinten zum Reiseköfferchen, der andere Arm angewinkelt, in der Hand der Pass mit Boarding Card, auf dem Ellbogen die Jacke. Nach einem anfänglich beschwingten Gang, vorbei an zahlreichen Goudas und Holzschuhminiaturen setzt allmählich die Ernüchterung ein. Zum einen, dass der rauhe Boden für Rollköfferchen nur zu ungeeignet, zum anderen dass das dauernde Röhren, das der rauhe Boden und das Rollköfferchen zum Besten geben nur kur kurz das Musikgehör beglücken mag.
Jedenfalls kommt nach 20 Minuten sicher schon zum zweiten Mal der Gedanke, warum man nicht einfach direkt in Richtung Hong Kong losgelaufen sei – dann wäre man wenigstens schon dort.
Im Flugzeug freue ich mich wie ein kleiner Junge auf die fabelhaften (so die Webseite der KLM) Economy Comfort Sitze – und sie halten, was sie versprechen: Mehr Beinfreiheit – ca. 20 cm, leicht breiterer Sitz – 3 cm. Das mag sich nach wenig anhören, aber für ein Vehikel wie ich eines bin sind es Welten.
Neben mir finden sich ein Geschäftsmann aus dem Zielort und dessen Frau, die sich eine Gesichtsmaske umgebunden hatte. Nicht aus kosmetischen Gründen wie ich später feststelle, sondern wegen den bösen "Germs", wobei ich immer noch nicht sicher bin, ob sie die Umwelt vor sich, oder sich von der Umwelt schützen will. Bei Asiatinnen, auch in Melbourne, scheint der gegenseitige Austausch von Bakterien ohnehin noch zum guten Ton zu gehören, wenden sie sich doch schlagartig ab, mit einem "nyääää" auf den Lippen, sollte man mal bei einem Huster mit nur 99%-iger Sicherheit die Hand vor den Mund zu halten. (Nebenbemerkung: Unser Körper beherbergt ca. 1-2 kg Bakterien)
Apropos Ton, ausserordentlich beliebt am Flughafen von Hong Kong! Fröhlich wird genüsslich gerülpst, gepupst, und – obwohl unmöglich – laut uriniert. Auf eine Wiedergabe des Spektakels verzichte ich, ist es doch in eurer Fantasie bereits genug grotesk.
Da der Geschäftsmann eine andere Vorstellung von "Comfort" hat als ich – seine Vorstellung besteht darin, dass Arme des Sitznachbarn als Wärmekissen zur Armablage zur Verfügung stehen – wechsle ich den Sitz, um in einer fast leeren 3er Reihe Platz zu nehmen. Am Fenster ein sehr adrett gekleideter Mann, der wie ein Englischer Lord aussieht: Anzug, Fliege, Schnauz und eine Folge von wichtigen Zeitungen. Seine Contenance beginnt jedoch bereits nach dem Abflug zu bröckeln, als er den Lichtschalter betätigen möchte, und dies per heftigem Schrauben am Licht selbst tun möchte. Ich erkläre ihm, dass der kleine Schalter in der Armstütze dasselbe Ziel viel schneller und bequemer in drückbare Nähe bringt. Nach weiteren Vorfällen – er erschrickt zum Beispiel jedesmal grausam, wenn er nach "Coffee or Tea" gefragt wird – frage ich mich, ob er nicht wohl eigentlich in die Kutsche von Ribbenthorpe nach Worcestershire steigen wollte.
Der brandneue Hongkonger Flughafen hält die eine oder andere bestaunenswerte Überraschung bereit. Zum Beispiel rollt man auf einem Laufband langsam auf eine Reihe bemundschutzter Asiatinnen zu, neben ihnen ein Schild: "Please remove hat for temperature control". Ich grinse. Sicher wieder mal ein Fall von "Engrish", oder hier wohl "Chengrish", eine Fehlübersetzung von "Please present your boarding card." Als ich sie passiere, sehe ich aber, dass sie per Wärmekamera die Temperatur des Kopfs prüfen, welcher beim Mann hinter mir rot aufleuchtet.
Als ich mich zum zweiten Mal umdrehe, ist der Mann samt Hut verschwunden.
Kuriositäten: Etwa 50% der Werbungen beinhalten irgendeine Form von Kung Fu/Magie Film, bei dem die halbe Welt in Staubform aufgewirbelt wird. Der Papierspender auf dem Klo ist so angebracht, dass selbst ich mit meinen 1.90 m ihn nur knapp erreichen kann. Sprungtraining für Asiaten?
Da ich auf dem Flug nach Melbourne dann kaum schlafen kann, unterhalte ich mich mit der ca. 50-jährigen Schottin neben mir und lande schliesslich kurz vor 6 Uhr morgens in Melbourne, um dann den ganzen Tag gegen den Jetlag zu kämpfen. So heroisch wie möglich. Als ich mich aber im Unipark wiederfinde, gebe ich auf und schlafe 2 Stunden.
In der Nacht dann pure Action: Etwa um 12 Uhr rasselt die scheinbar über meiner Tür angebrachte Feuerglocke los und als ich in Unterwäsche aus dem Hotel torkle, werde ich von den australisch reinstürmenden Feuerwehrmännern beinahe überrannt. Draussen auf der anderen Strassenseite etliche Hotelgäste, die mich bestaunen, bzw. meine Unterwäsche, die sicher in den 80er Jahren mal total Mode war und von Filmstars beworben wurde. Nach 20 Minuten die Entwarnung: Jemand brauchte einfach eine kleine Zigarette. Zur Beruhigung. Oh ja. Eine rauchen und abchillen. Einfach in aller Ruhe mal zurücklehnen und … RRRRRRINGGGGGG!
Übrigens, australisch reinstürmen bedeutet "locker und mit einem Spruch auf den Lippen reinschlendern". So sind sie halt.