Samstag, 31. Juli 2004

Gramado - Der südlichste Punkt der Schweiz

(Die Schweiz umfasst also mehrere tausend Kilometer ;) )

Frühmorgens um 7 schälen Mathias und ich uns aus den Betten, wie Orangen aus der Schale. Der Vergleich versagt dabei, dass wir über viel weniger, und angesichts des Regens, der an unsere Scheiben trommelt, viel zu wenig Vitamin C verfügen. Stöhnend stolpern wir in den amphibienfreundlichen Tag hinaus, im Wissen, dass in unserer ohnehin schon feuchten Wohnung die Kleider nun *noch* weniger schnell trocknen werden. Ich denke mir schon einige Sprüche aus, die ich dann als Moos-Man (à la Spiderman) jeglichen Verbrechern entgegenschmettern kann. Leider komme ich nicht über "Ampelgleich sich gibt mein Moos, bei Grün Du bleibst nicht prügellos!" hinaus, da sich in dem Moment, als ich den Satz zu Ende denke, mir schon ein Liter Wasser ins Gesicht geklatscht wird. Um positiv zu bleiben: Zum Glück habe ich mir nicht die Mühe gemacht zu Duschen.


Nach den ersten zwei Wochen Sonnenschein ist dieser Regen und die Kälte absolut surreal. Wurde ich über Nacht von Aliens an den Südpol geflogen, im Sinne eines Experiments? Habe ich gesündigt? (Gluttony comes to mind ;) )

Der Plan ist simpel:
Bus D43 zu Michelles (Sco'ish Girl) Wohnort, dann T7 bis zum Flughafen. Dann Mietauto bis Gramada.
Hannibal vom A-Team dazu: "Ich liebe es, wenn ein Plan gelingt!"
Ich und Mathias ebenfalls, und darum sinkt die Moral in der Truppe rapide, als wir nach 20 Minuten Wartezeit merken, dass der Bus heute nicht fährt. Kurzentschlossen springen wir in den nächsten Bus und geniessen ein paar Minuten ohne Vietnamesische Wasserfolter, bis wir merken, dass wir etwa 2 Kilometer an unserem Ziel vorbeirauschen, bis zum Busbahnhof (Rodoviaria). Total abgestumpft durch die konstanten Fehl- (oder Nicht-)Informationen des hiesigen Busbetriebs, steigen wir in ein Taxi - und fahren wieder zurück. Um es kurz zu machen: Wir treffen uns dann (leicht verspätet, öhöm) mit Michelle und flitzen zum Flughafen.

Meine Befürchtung, sie (Santi und Cristina, Spanien) könnten wegen unserer 3/4h Verspätung leicht genervt sein, löst sich in spanischer Nonchalance auf, als sie die Verspätung mit keinem Wort erwähnen. Wohl schon zu lange in Brasilien? :)

Auf dem Weg zum Flughafen freuten sich Mathias und ich schon aufs Auto und die integrierte Heizung, die uns in warmer, trockener Luft einhüllen wird, wie ein Badetuch in der Nivea-Werbung. Weit gefehlt! Schockiert starre ich im VW GOL auf die dunkle Plastikfläche, die völlig unbeeindruckt weiterhin flach und ohne wärmespendende Öffnung bleibt. Innerlich lache ich über meine Schockiertheit und denke, dass das alles nur ein Missverständnis ist. Sicher ist die Heizung in Brasilianischen Autos irgendwo unter dem Sitz montiert! Alles klar, es kann geheizt werden! Weit gefehlt, Teil II. Eine mit klammen Fingern durchgeführte Suche ergibt, dass Heizungen in Brasilianischen Autos nicht existieren.

Wir rauschen über die Autobahn. Und frieren still vor uns hin, während mich Gedanken an den nur 50 Zentimeter vor meinen klammen Beinen glühenden Motor quälen.

Cristina fährt. Und dies auf eine sichere Art. Sehr sicher. So sicher sogar, dass Grossmütter im Vergleich dazu wie rasende Teufel der sieben höllischen Autobahnen des flammenden Todes erscheinen. Wegen meiner exponierten Lage auf dem rechten Vordersitz ist es mir vergönnt, mich in den Mantel vorgetäuschten Schlafes zu hüllen, als es darum geht, einen Navigator zu erküren. Normalerweise habe ich nichts gegen diesen Job, im Gegenteil, ich schätze ihn sogar, auch wenn es heisst, dass man wegen eines winzigen Fehlers johlend mit Sprüchen eingedeckt wird.
Aber mit Cristina: Kompliziert. Nicht nur beharkt sie mich bei jeder winzigen Kreuzung mit diesem quieckenden "Que? Que? Florian, para onde vamos? Para onde? Que?" Wenn ich links sage, fährt sie rechts. Sage ich rechts, fährt sie links. Sage ich geradeaus, fährt sie über die nächste Klippe. ;)
Aber zum Glück bin ich zu erschöpft, um mich über diese kleinen Unzulänglichkeiten aufzuregen, und beginne mich, an sie anzupassen. D.h.: "rechts", "links", "Über die nächste Klippe, bitte".

Alle Wege führen nach Gramado, und schliesslich erreichen wir das Touristenparadies, das wie ein ein Kind von Davos (Schweizer Ferienort für reiche Deutsche) und Tübingen (Deutscher Ferienort für deutsche Studenten) aussieht.

Für die offenbar zahlreichen Fans ;) ausschweifender Essensbeschreibungen nun das Völlerei-Special:
Café Colonial!
Der Name deutet auf Kaffeegenuss auf der Veranda eines weissgestrichenen Kolonialgebäudes hin, nicht? Mit übereinandergeschlagenen Beinen geniessen wir den Sonnenuntergang, während uns die Meeresbrise den süssen Duft des Kaffees offeriert, der uns vom Dienstmädchen in edelstes Porzellan geleert wird. Wenn wir uns nach vorne beugen, antwortet unser Strohsofa mit einem leisen Knirschen. Die Konversation ist leicht, gleitet manchmal ins Süffisante ab, auch Politik wird diskutiert, und ob die nächste Eisenbahnlinie wohl durch unseren Landstrich führen wird. :)
HA! Nicht ganz! Café Colonial wird wie folgt gegessen. Ein Bild sagt tausend Worte:


Mampfmann & Völlermeister

Und das ist nur die Hälfte des Tisches! Und sobald einer dieser kleinen Teller auch nur ansatzweise sich zu leeren beginnt, rauscht ein Kellner quasi aus dem Nichts herbei, mit einem neuen Teller. Minimal eingeschüchtert beginnen wir zu essen... ;)

Auf unserem hoffnungslosen Verdauungsspaziergang (hoffnungslos wegen der Verdauung) besuchen wir ein was immer es war, aus der Vorderseite des Hauses hängt ein Zug heraus, der dampft, und ab und zu sein sinnloses Dasein mit einem langen Pfeifen beklagt. Schliesslich noch ein Besuch in der Schokoladenfabrik, bei dem Cristina ihr eigenes Gewicht in Schokolade kauft. Schweizer Schokolade ist immer noch die Beste. (Ich entschuldige mich für diesen Satz, aber er musste gesagt werden. ;) Den ausländischen Mitlesern kann ich die Frigor von Cailler (?) empfehlen.)

Am Abend dann werfen wir uns ins durch und durch feuchte Nachtleben von Gramado. Wenn ich feucht sage, meine ich nicht etwa den Alkohol, der hier fliesst. Aber das konntet ihr euch schon denken, oder?
Ein gewisser Charly Garcia - ein argentinischer Altrocker - wird Abends ein Gratis-Konzert geben. Obwohl ich normalerweise auf Altrocker mit einem vor mich gehaltenem Kreuz und generös ausgeteiltem Weihwasser reagiere, ist doch die Anziehungskraft des Wortes "Gratis" für die mitkommenden Studenten zu stark. (P.S: Geht bitte nicht ein Bild von Charly Garcia anschauen. Ich habe schon für euch gelitten.)
Um die Zuschauer auf das Konzert einzustimmen, spielen Gaukler auf und diverse Gnome krabbeln durchs Publikum. Der See, auf dem die Tribüne aufgebaut ist, wird von diversen Lampen mit rotem und blauem Licht beworfen, die Bäume hinter uns grün beleuchtet. Zusammen mit den Schwan-Pedalos bietet sich uns ein bizarres Schauspiel.
Das Konzert beginnt fulminant! Nach einer Stunde Soundchecks verharren wir erwartungsvoll in Dunkelheit, während die Nässe und Kälte heimlich über die grüne Grenze meiner Schuhe einwandern. Das heisst, die braune Grenze, da Gras, trotz seiner mächtigen Eroberung der Erde, hunderten von Schuhpaaren nicht viel entgegenzusetzen hat. Schliesslich besinnen wir uns der russischen Regel, dass schon viele vor Kälte gestorben sind, aber niemand wegen Alkohol. Die Regel stimmt nicht, ich weiss, aber es ist mittlerweile so unbarmherzig kalt, dass ich mich freudig in die Arme des am Mittag noch gemiedenen übelst fruchtigen Gaùcho-Wein (Erdbeerlimonade mit Alkohol) werfe. Und es wirkt! :)

Bei Santi wirkt es sogar so gut, dass er sich nachher beim friedlichen Ums-Feuer-Sitzen gleich weiterwirft, diesmal in die Arme etlicher 40-jähriger Brasilianerinnen. Ähäm. Mehr wollt ihr nicht wissen, oder? ;)

Das Konzert endet übrigens damit, dass der Typ alles ins Wasser wirft, was er in die Hände bekommen kann, was wir aber schon lange nicht mehr mitkriegen, da ich zu der Zeit bereits wieder versuche, Cristina durch die Nacht zu dirigieren. (Mit der Hilfe von Mathias, Co-Navigator erster Klasse, auf den Cristina hört - oder den sie versteht, klappt das dann auch)

Zum Schluss noch dies, liebe Mitleser (HA! Eine Charles-Clerc-Tagesschau-Andeutung, nicht schlecht, was?), zum Schluss noch die: Bevor wir uns unter der grosszügig bereitgestellten Wolldecke (1 cm dick) in den Schlaf lullen, entdecken wir, dass die Duschen in der Jugendherberge nicht nur gänzlich ohne freiliegende Kabel, nein, sogar mit brühendst warmem Wasser aufwarten können!!! Mathias, Santi und ich geniessen ausgedehnt (separat!) das heisse Nass, und erst als Santis (amüsantes) Gebrabbel über Frauen und die "I am full of Love!"-Sprüche zu repetitiv werden, schleichen wir uns aus dem Duschraum. Das Glück ist uns hold als wir, genau im Moment in dem Santi noch zu singen beginnt, die Tür hinter uns schliessen, um in den Schlafraum "Schnarch City" zu flüchten...

Freitag, 30. Juli 2004

Winter!

Klammheimlich, still und leise schleichen sich in der Nacht Väterchen Frost und Mütterchen Winter heran...

Nein, vielmehr schicken sie ihre zahlreichen Kinder los: Regen, Traufe, Pfütze, Frontalwind, Nässe, Schnupfen und Grippe und machen sich eine schöne Zeit am Südpol. :)

Es ist übel - nach fast zwei Wochen schönstem und wärmstem (und für die Jahreszeit untypischstem) Wetter wechselt über Nacht die Lage komplett. Und es regnet nicht nur, sondern giesst aus Kübeln. Wetteroptimist, der ich bin, kann ich den aus Südwesten kommenden (und damit vom Meer her) Naturgewalten nur wenig entgegensetzen. Zwei Pulliartige Dinger, plus ein paar dicke Socken wollen ökonomisch eingesetzt werden. Aber hey, mich trifft keine Schuld - es ist schliesslich Brasilien. Hätte ich nur einen Tanga mitgebracht, wäre es ok gewesen! ;)
Während in Zürich bei schönem Wetter alle und alles Kopf über Hals aus den Häusern stürzt, um mit quasi herausgestreckter Zunge jeden ausgesandten Sonnenstrahl aufzufangen, krabbelt hier eine ganz spezielle Spezies bei Regen unter ihren Steinen hervor: Die des Regenschirmverkäufers! "Guarda-Chuuuuva" hört man schon von weitem ihre Rufe durch das Rauschen des Regens. Vor der Universität erblicke ich gleich fünf Exemplare, die sich auch schon mit leuchtenden Augen auf mich werfen. Brauchen sie Nahrung? Zuwendung? Nein, Geld, wie üblich - und davon erstaunlicherweise wenig! Ich brauche keinen - d.h. ich will keinen, brauchen täte ich einen eigentlich schon - und düse an den am Eingang angebrachten Lautsprechern vorbei mit dem Gedanken, wie merkwürdig ihnen das Wort "Guarda-Chuva" mit der Zeit erscheinen muss. Schon mal 100x mal "Öpfel" (Apfel für unsere deutschen Mitesser, huch, Mitleser) gesagt? Hört es sich nach so vielen Malen genauso merkwürdig an wie etwa "Hörknärfulgps" nach einem Mal?

Die Lautsprecher am Eingang, übrigens, auf die ich vorhin hingewiesen habe, spielen den ganzen Tag Pop/Folklore/Klassik, und oft auch SAMBAAA! - Letzteres ist besonders erfrischend, wenn ich um 8 über die Schwelle des Universitätsgeländes stolpere, und ich nach Fruchtsalat ("Salada de Frutas") lechze. Ich könnte hier stundenlang über die exquisite Qualität und den nie endenden Geschmacksgenuss des Fruchtsalats schreiben. Aber ich begnüge mich damit, euch mitzuteilen, dass er immer morgens frisch aus Ananas (Abacaxi), Äpfeln (Maçã), Mango (oder so?), noch was hergestellt wird und schliesslich in frischgepresstem Orangensaft (Suco de Aranja) ertränkt wird. Göhö-öttlich! :)

Abgesehen von den vielen Gebäuden hier nähert sich auch etwas Lebendiges unweigerlich dem Zerfall ;) - Mathias hat Geburtstag! Immer noch ein junger Hüpfer wird er satte 25. Wir feiern dies im stadtbekannten Cheese-(X, "Schis")-Burger-Laden. Dort kann man aus etlichen Variationen des Cheeseburgers aussuchen - mit Variationen meine ich eigentlich Mutationen, denn was schliesslich vor uns auf den Tisch gestellt wird, sieht aus wie ein kleines Gallisches Dorf im Norden von Gallien, das doch noch von den spinnenden Römern überrennt wurde. Überall ragen spitze Pommes Frites hervor, Fleischstücke liegen verstreut umher, die Fauna völlig zertrampelt, und es fliesst Ketchup.
Aber das passiert halt, wenn man sich gleich beim ersten Besuch den 373er mit Spiegelei und Vierfachkäse vornimmt. (Meine "Gnade! Gnade!" Schreie wurden eiskalt ignoriert)

Morgen soll es nach Gramado losgehen - wird es ebenso kalt sein? (Antwort aus der Zukunft: Nein. Es wird viel kälter sein.)

Die Einträge für den Rest des Tages sind unlesbar. Vermutlich handeln sie von unsäglichen Magenschmerzen... ;)

P.S: Doch noch geschafft! Regenjacke im Outdoorshop gekauft, für lachhafte 80 Reais! :)

Donnerstag, 29. Juli 2004

Clinostat

Heute kommt Thaïs aus ihrem Kreuzzug durch England, fürs Labor Geld zu kriegen, zurück. Thaïs ist mein Chef, d.h. bis dahin habe ich angenommen, Thaïs sei ein Männername. Überrascht aber merke ich, dass dies keineswegs der Fall ist! Jedenfalls war sie siegreich, was zwar vom Rest des Labors glücklich, aber nicht ohne knirschende Zähne aufgenommen wird. Denn: Das Geld geht nicht direkt zum Labor, sondern erst mal zur Universität, dann ein kleiner Teil davon zum Institut, und schliesslich etwas, mit dem man hier drei Erdnüsschen kaufen kann, zum Labor. Die Freude kommt also wohl eher daher, dass die Leute hier gerne Erdnüsschen knabbern?

Jedenfalls überrumpelt sie mich gerade nach der Ankunft damit, dass ich ein Paper schreiben soll, über einen Clinostat, und dies 2005 in Innsbruck auch präsentieren soll! *hurks* Das mach ich natürlich gern, aber was ist ein Clinostat?

Hier ein Beispiel:
http://www.desc.med.vu.nl/RPM_us.htm

Später, unter etwas kühlerem Kopf durchgeführte Recherchen ergeben, dass ein Clinostat ein Gerät ist, mit dem man Mikrogravitation simuliert, indem man das Testobjekt um eine, oder zwei Achsen permanent rotiert. Die Objekte sind meist Pflanzen, aber manchmal auch Tiere. Pflanzen können die Richtung der Gravitationsachse spüren, dies in Milisekunden bis Minuten, je nach Pflanze. Spürt die Pflanze die Schwerkraftsrichtung schneller, so muss auch der Clinostat (auf Deutsch eigentlich "Klinostat") schneller drehen.

Wir sollen nun einen Clinostat bauen, der mehrere sekundäre Drehachsen hat. Alles klar?
Dazu mehr, sobald wir das Ding auch zu bauen beginnen! :)

Mittwoch, 28. Juli 2004

Kalt Duschen, Teil II

Heute erlebe ich sowas wie einen durchschnittlichen Tag - rückt also näher und hört mir zu...

*psst flüster wisisisispssst*

Näher!

Danke. *g*

Nochmals: Wie üblich wache ich so um 7:00 auf, und versuche gegen die extreme Kälte ausserhalb der Bettlaken und meinen inneren Schweinehund anzukämpfen. Um 7:30 gewinne ich den Kampf und trotte siegreich Richtung Dusche, die Tatsache, dass sie immer noch kalt ist, vergessen. Die Dusche ist aber sehr zuvorkommend und unterrichtet mich sofort über dieses Faktum. Die Zähne zusammengebissen übe ich mich in Haar-Zen, zur Entspannung: Kaltes Wasser ist gut für Glanz, Spannkraft, und Elastizität eines kräftigen Haars (x20). Dies lässt mich die irrsinnige Kälte für ein, zwei Minuten aushalten. (Obwohl natürlich der Stress mindestens die halbe Haarpopulation dahinrafft, und sie sich kraftlos von meinem Skalp lösen - einen letzten depressiven Spruch auf der Wurzel hinterlassend)

Der Plan für heute: 300 Dollars in Traveller-Checks einlösen! Ich gebe zu, kein grosser Plan, aber ich koche auch hier mit Wasser. Kalkhaltigem, algenverschmutztem, organismenschwangerem Wasser. ;)
(Ach übrigens - meine Kommentare zum Land mögen sich vielleicht etwas bissig anhören, aber das zeigt nur, wie gern ich es eigentlich mag. Ich habe die kleinen Schwächen fast sofort ins Herz geschlossen. Mit Ausnahme der vermurksten Bürokratie - die würd ich am liebsten per Katapult auf die Uranusumlaufbahn befördern)

Die Sonne scheint und in der Küche befinden sich nur ein paar traurige Kekse und Wasser - wir entscheiden uns also für ein edles Frühstück in der nahegelegenen (östlich) Bourbon-Mall. Dort angekommen, ignorieren wir jegliche Bemerkungen der Bedienung und deuten äusserst bedeutungsschwanger auf die Torten und die Kaffeemaschine. Milchkaffee haben wir schon gelernt: "Cafè com Leite", bei der Torte aber hapert es noch ein Bisschen. Zu spät bemerke ich die gesuchten Croissants - irgendwo links unten in der Ecke. Enttäuscht verstummen die Croissant-Schreie nach Freiheit, während wir uns in die bequemen Reisigsessel versenken.
Zum Kaffee wird uns noch ein kleines Miniguetzli und ein Becherchen (zirka 20 Mü-Liter) Mineralwasser gereicht. Die Torten sind wie immer exquisit, und man kann die unter mehreren Schichten an Zucker befindlichen Geschmacksmoleküle ohne Weiteres orten! :)
Schliesslich die Rechnung, die das Deutsche und Schweizer Blut in Wallung bringt - 20 Reais! Und erst noch ohne Begründung! Werden hier unschuldige Touristen (obwohl ich ja der Meinung bin, dass Touristen *immer* schuldig sind ;) ) ausgenommen? Andererseits, dämmert es uns, befinden wir uns in einem edlen Lokal, und 20 Reais sind lockere 8 Franken. Haben wir uns schon zu fest an die Preise gewöhnt? Sind wir üble Rappenspalter? (Ja!)

Dann die Busfahrt in der Linie T2 - die Karte siebenmal abgecheckt - versuchen wir die vorbeiflitzenden Strassennummern zu erhaschen. Die Strassennummern sind übrigens an jeder Strassenecke gut sichtbar angeschrieben: "Avenida Soundso 1000-1200". Sehr brauchbar, kann ich nur sagen, besonders, weil die Strassen hier so eheheheeeelend lang sind. Das Einlösen der Checks ist kein Problem, und ich kriege die Summe von 888 Reais zurück. Mit 888 Reais durch die Strassen zu wandern, ist aber hier nicht wirklich eine sehr tolle Vorstellung, und so bin ich froh, als mir Felipe freudig verkündigt, ich könne es auch in den Safe des Labors legen.
(Der Trip übrigens dauerte etwa 2 Stunden)
Ooooh, wir haben einen Safe! Ist es ein "Löcheppler 1986, mit dreifach verschraubter Intrusionsabwehr"? Oder ein "Vigilante Zero-Knackante"? Oder gar ein "HelterShelter X3000 mit ablativer Schutzplättlung"?
Grinsend öffnet Felipe den Aktenschrank und lässt mich das Geld zwischen Schreibstiften und Kuverts einschieben. Innerlich applaudierend *clap clap* gebe ich ihm recht - wohl einer der sichersten Orte der Welt. Ein Panzerschrank zieht ja sonst die Panzerknacker an wie die Fliegen, wie wir aus unzähligen Hollywoodproduktionen wissen.

Mittags dann die Sportmöglichkeiten angeguckt - trotz Gaumenfreude sind Churrascãos keine Hilfe für die Fitness. Es sieht so aus, als könnte man hier für relativ wenig Geld die weite Welt eines Kraftraums erkaufen. Davor aber muss man sich einer "Physischen Einschätzung" für 35 Reais unterziehen. Hmmmm. Soll ich es machen? (Anwort: Ja)

Am Nachmittag schliesslich schauen Felipe, Mathias und ich das Chipdesign des 8051 Mikroprozessors an. (Ich verschone euch mit technischen Details wie Registerzahl, Speicher, und Megahertz!) Zwar habe ich mich nie recht für sowas interessiert, bin ich nun begeistert. Ein Mikroprozessor ist wie ein guttrainierter Hund. Es gibt einige simple Befehle, und er folgt einem aufs Wort. Blabbert man in unverständlichen Wörtern, tut er einfach nichts, oder hechelt sinnlos vor sich hin.
Dies ist ein grosser Unterschied zu dem, was ich bisher gemacht habe - die Objektorientierten Programmiersprachen ähneln eher einem riesigen Viech, das direkt aus dem Topf eines verrückten Zauberers stammen könnte. Versucht man es zu zähmen, wird man argwöhnisch von etlichen Augen und Auganellen (Biologen mögen mich korrigieren ;) ) angestarrt, während man sich über den Erfolg freut, das Monster dazu motivieren zu können, seine linke untere Klaue (oder ist es ein Tentakel?) zitternd und schleimabsondernd zu bewegen. Dies im ständigen Wissen, dass - sollte man einen Fehler begehen - es einem mindestens ein Bein abbeisst.
Bereits schreiben wir ein erstes Progrämmchen, das zaghaft, aber bestimmt die Milisekunden zählt, die zwischen zwei Ereignissen verstreichen.

Abends dann fahren wir ohne unser Verschulden mit dem Bus viel zu weit - direkt vor ein Einkaufszentrum. Im Hintergrund das Stöhnen unserer Geldbeutel. Eine grosse Safari durch den Dschungel folgt! Deutsches Brot ("Leinsamenbrot"), das gummiweich ist! Früchte nie mein Aug erblickt'! Butter, Frischkäse, Salat, Fleisch, Käse, Gurken, einigermassen hartes Brot eingekauft und schnell nach Hause gedüst, wollen wir doch noch von Frau Suelè erfahren, wie wir genau zu Gas für unsere Küche kommen können. Und wir schaffen es sogar, ihr das klarzumachen. Juhu! Eine Stunde - und ich weiss nicht wieviele Telephonanrufe von Frau Suelè - später rauscht ein Lastwagen vor unsere Tür. Ein Mann steigt aus, und beschwafelt uns, was aber gleich von Frau Suelè mit einem herausgestossenen, zigarrettengeschädigten "Eles não falam Português!" pariert wird. Wir zahlen die etwa 32 Reais für die riesige Gasflasche und tragen den Jagderfolg stolz auf unseren Schultern über die Schwelle. Ein erster Test mit einem gebratenen Würstchen endet in einem vollen Erfolg. Wir vergessen dabei sogar fast, dass unsere Dusche immer noch kalt ist.

Aber nicht ganz, denn wir machen uns kurz danach daran, die Dusche zu reparieren. Ich will nicht alles im Detail erzählen, obwohl das ohne Frage sehr amüsant wäre. Von der Dusche zur Sicherung ist es sicher 20 Meter, und wir testen jedesmal, wenn wir die Sicherung abstellen per Waschmaschine und Mathias' Föhn, ob denn auch wirklich kein Strom fliesst. Alles andere wäre närrisch. Dann machen wir uns daran, per Föhn jede einzelne Komponente zu testen. (Die Komponenten haben wir übrigens vorher gewaltsam herausgebrochen, was die Dusche minimal in ihrer Integrität schwächt. Ok, ich gebe es zu, die Dusche ist nun ein wackliges, bemitleidenswertes Ding). Wir finden endlich heraus, wo das Problem liegt - und es ist genau der Ort im Duschkopf, zu dem wir nicht durchdringen können!

Enttäuscht schlafe ich ein, von wilden Träumen, in denen Mikroprozessoren Würstchen braten, gejagt...

Dienstag, 27. Juli 2004

Panik um Mitternacht

Heute führt uns Felipe durch das gesamte Gebäude 30, um uns die Räumlichkeiten zu zeigen. Es umfasst zirka sieben Stockwerke und besteht aus etlichen Räumen. Mit einiger Genugtuung stelle ich fest, dass auch die meisten anderen Labors mit genausowenig Platz (oder weniger!) auskommen müssen wie wir. Ich muss sogar fast sagen, dass mir unser Labor verdächtigerweise kurz nach dem Besuch ziemlich geräumiger vorkommt. Ich entdecke auch, dass ich meine Beine fast komplett ausstrecken, und sogar senkrecht stehen kann, was bei den anderen Labors nicht unbedingt der Fall ist.
Andererseits fällt mir auf, dass die Abteilung Mechanik viel grössere Werkstätten ihr eigen nennt. Verwunderlich - ist die grenzenlose Raumfahrt denn für die Menschheit nicht viel wichtiger als z.B: handelsübliche Verbrennungsmotoren? Sollte nicht jede Familie eine Abdominale Unterdruckkammer besitzen? ;)

Nah, quark! Es war - und ist - immer noch beeindruckend, mit was die Leute hier auskommen. Dinge, die einen kleinen Riss aufweisen, werden nicht etwa weggeworfen, sondern fein säuberlich aufbewahrt, damit das Ding repariert werden kann, und vielleicht sogar irgendwo wieder benutzt werden kann. Zum Beispiel haben die Optiker im Nachbarslabor selbst ein neues Teleskop aus einem alten 2.-Weltkrieg-Teleskop gebastelt. Auch werden nicht die neuesten Technologien benutzt, man muss halt mit dem auskommen, was man hat. Ich habe doch einiges über Wiederverwendung gelernt. Auch sind die so gebauten Prototypen meist extrem billig.

Abends ist ein Lern-Die-Anderen-IAESTEler-Kennen-Abend geplant, und ich frage mich, was die anderen so erlebt haben. Das Treffen soll in der Bar Acqua stattfinden. (Zum X-ten Mal konsultiere ich meine von Ameisen, Termiten, und Waschpulver zerfressene Karte) Bevor wir uns aber ins ausgelassene Nachtleben von Porto Alegre stürzen können, müssen wir uns (= Mathias und ich) die schamlosen Präsentationen der Wohnungen der anderen IAESTEler über uns ergehen lassen.
Zur Erinnerung: Mathias und ich wohnen in einer Wohnung ohne warmes Wasser, Fernseher, Radio, Telephonanschluss und Würde.
Marie (aus Irland) zum Beispiel wohnt in einem edlen Zimmer mit Computer, Internetanschluss und Heizung! Im letzten Moment konnte ich mich zurückhalten, mich auf die Heizung zu werfen und die Umklammerung niiiie wieder zu lösen...
Michelle aus Schottland wohnt in einer fast schockierend luxuriösen Wohnung. Merkwürdigerweise ist ihr Zimmer mit Postern im Stile der Tabou-Werbungen ausgekleidet. Eine latente Lesbe? Ist sie gar ein Mann? Die Lösung des Rätsels liegt darin, dass der eine Sohn sein Zimmer für sie hergeben musste und nun ein bedauernswertes Dasein im Zimmer der jüngeren, 15-jährigen pubertierenden Schwester frönt. Ich kann der Familie nur raten, alle spitzen Gegenstände aus seiner Umgebung zu entfernen... ;)

Anschliessend düsen wir zur Bar Acqua - eine sehr chic-e Bar (passt zu Rita, unserer Austauschbeauftragten), in der später Abends dann Livemusik gespielt wird. In der Sekunde, als uns zur Begrüssung Sushi vorgesetzt wird, quält mich kurz der Gedanke, ich könnte minimal underdressed sein. Dann aber bemerke ich, dass die Männer hier generell von Muttern gekleidet werden (Pullöverchen und Hemdchen), dafür die Frauen durchwegs gute Kumpels von Gucci usw. usw. sind. Sowieso. Zum Thema Frauen. Mehr Beobachtungen müssen durchgeführt werden, aber erste Hochrechnungen ergeben, dass sich die weibliche Bevölkerung hier mehr als sehen lassen kann.
Dazu später mehr. (Ha! Hasst ihr diesen Satz schon?) Oder vielleicht ein paar Fotos aus dem Jura-Gebäude von unserem Livereporter vor Ort: Santiago dem Spanier. Oder vielleicht besser nicht. Ja, besser nicht.

Doch nun endlich zum Titel! :)
Kaum erreicht Spanien (Santiago und Cristina) etwas verspätet die Bar (ca. um 23:30, das Treffen war auf 21 Uhr angesagt), müssen Mathias und ich auch schon gehen - der letzte Bus ruft! Dummerweise werden wir von Santi noch für ein paar kleine Diskussionen aufgehalten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, um was es genau ging (normal bei Santi), aber ich tippe darauf, dass es eine Abhandlung über Frauen, Frauen, und vielleicht noch ein, zwei reingequetschte Sätzchen über Frauen war (auch normal). ;)
Im Wissen, dass der letzte Bus um 12 fährt, joggen wir zur angenommenen Position der Busstation. Die auch tatsächlich da ist. Nervöser werdend schauen wir den Bussen zu, die leider nicht an unser Ziel fahren. Oh, hoppla. Doch, der *wäääre* an unser Ziel gefahren. (Erfahren wir im Nachhinein, nach einem schnellen Blick auf den Plan) Einige Minuten vergehen. Um uns zwielichtige Gestalten. Im Hintergrund das Geräusch von Autos, wie sie durch Pfützen fahren. Sonst nichts. Messer blitzen auf. Nein, silberne Handys. Minuten vergehen. Die Augen gerötet horchen wir nach Übeltätern, die planen, sich auf uns zu stürzen. Doch da ist nichts, nur diese erdrückende Stille, die einem fast hoffen lässt, man würde überfallen. Und dieses Rauschen des Regens.
Gut, ich könnte stundenlang so weiterschreiben, die Spannung sukzessive aufbauend, aber ich werde schliesslich vom Bus, der uns simple und für billige 1.55 Real nach Hause fährt, unterbrochen.
Und wieder eine Niederlage für die Literatur! ;)

Montag, 26. Juli 2004

Zu Zweit geht's einfacher

Heute passiert nicht wirklich viel.
(Zum Glück! Sonst hätte ich wohl nie eine Chance, aufzuholen ;) )

Das grosse Thema im Labor ist das gestrige Spiel - endlich haben sie wieder mal die arroganten Argentinier geschlagen! Ju-hu-hu!

Am Nachmittag kommt dann der Deutsche an: Mathias Franz! Mathias ist übrigens der Vorname, Franz der Nachname - amüsant auch, dass seine Freundin ebenfalls mit solch einem Velwechsrer-Namen geschlagen ist. (Um die Privatsphäre von Mathias nicht anzupieken, lasse ich aber ihren Namen hier weg)


Mathias Franz

Mathias wird in der selben Wohnung wie ich wohnen. Obwohl ich mich doch recht frage, wieso es das lokale Kommittee (sp?) clever findet, zwei Deutschsprachige in die selbe Wohnung zu stecken, bin ich doch noch froh, jemanden zu haben, mit dem ich auch mal etwas Deutsch üben kann. Mit Deutsch meine ich hier übrigens Mathias' Thüringisch (Beispiele: "Burger" wird zu "Bürger"), das in etwa Hochdeutsch entspricht. Einem Hochdeutsch, dem man eine Grapefruit in den Hals gestopft hat. Nein, quatsch - es ist nur schwer zu beschreiben. Hmm, z.B: "beschreiben" wäre dann "bö-schrchrcheibn" (das "r" wird hinten an die Rachenkante gehängt, es sich kratzend zu halten versucht und schliesslich verstummend hinunterstürzt)

Abends zerren wir den müden Mathias in eine Zigarrenbar, wo ich meine neue Liebe entdecke: Malzbier ("Maaausbier")! :)
Schockiert zahle ich die Rechnung über 30 unglaubliche Reais für ein Würstchen mit etwas Rucola und Zitronenessig, dazu 2 Malzbiere. Etwa 12 Franken, aber für Porto Alegre hoffnungslos überteuert. Dennoch, ein amüsanter Abend mit Fonseca, Felipe, Gustavo, Coelho, Mathias.

Witzig auch, dass jeder hier, der merkt, dass Mathias Deutsch ist, sogleich seine besten deutschen Phrasen hervorzukramen versucht, z.B: "Gudenmoagen!", oder etwa "Vilkomen!". Deutschland, Deutsche Biere, usw. haben hier einen ziemlich hohen Stellenwert, da ziemlich viele Deutsche hier eingewandert sind. (Am folgenden Wochenende dann ein Ausflug nach Gramada - DEM "deutsch/schweizerischen" Touristenort hier!)

Und damit beende ich diesen Tag, der in meinem Tagebuch sowieso nur 3 Zeilen umfasst.
Zu meinem Vorgehen noch:
Ich kritzle jeden Tag in mein cooles Tagebuch, ein von meiner Schwester gekriegtes Moleskine-Notizbuch, über das jede angehende Berühmtheit verfügen sollte. ;)
Dann versuche ich etliche Tage später, den Tag hier zu rekonstruieren - eigentlich kein Problem, dank flottem Bildgedächtnis. Das Problem ist nur, dass ich etwas langsam bin, und die Erinnerungen doch zu bleichen beginnen...

Sonntag, 25. Juli 2004

Die Sonne scheint auch im Norden

Ermutigt durch mein Shoppingcenterabenteuer entscheide ich mich, gleich als nächstes mich nach Downtown zu begeben. Wie schon seit meiner Ankunft ist es auch heute ein blendender (und gleichzeitig heisser) Tag und ich steige in meine geliebten Shorts, um mich auf den Weg zu machen.

Die Kamera habe ich aufgrund einiger gutgemeinter Ratschläge der Laborkollegen noch nicht dabei. Die Ratschläge nebenbei im Stile von: "Ach, Downtown ist überhaupt nicht schlimm, Du kannst meine Schrotflinte haben." Ok, nicht wirklich, aber es soll einige Diebe haben, und meine Kamera ist ein ziemlich grosses, glitzerndes Ungetüm.

Die Karte dazu übrigens ist hier zu finden:

http://n.ethz.ch/student/hankef/download/portoalegre/photos/040725_sonntagsausflug.jpg
(Ich entschuldige mich für jegliches Ungemach beim Lesen der Karte - ich verfüge hier gerade mal über Microsoft Paint, um die Karte zu bearbeiten. Die Distanzangabe fehlt übrigens, weil ich hier noch keine Karte erblickt habe, die über sowas verfügt. Der Grund dazu ist mir schleierhaft. Vielleicht eine angeborene Abneigung gegen Zahlen? Oder: "Ich hab ja ein Auto, ich brauch das nicht"?)


Der weisse Punkt mit dem roten Rand unten in der Mitte - da wohne ich. Rechts unten in der PUC arbeite ich, und wenn man dem roten Strich nach Westen folgt, kann man mir über die Schulter blicken, während ich unglaublichste Abenteuer erlebe! :)
(Ok, nicht wirklich...)

Das erste Abenteuer besteht darin, dass ich zum wiederholten Mal die alten Menschen vorbehaltenen Sitzen benutze (was mir aber erst eine Woche später klar wird) - und doch gleich von einem alten Mann harsch angeschnauzt werde. Ich erwidere seinen freundlichen Gruss und nicke dankend zurück. Dann wird er von seiner Frau angeschnauzt, die wohl offensichtlich erkannt hat, dass ich debil bin und darum einen Sitz bei den Alten mehr als verdient habe. Er schnauzt zurück, und irgendwie endet es in einem Streit, der einem stummen Anknurren ähnelt, bei dem der unfreiwillige Urheber sich beim Shopping Praia da Belas (Zweitgrösstes Shoppingcenter, inkl. Barbie-Contest, dazu später) aus dem Staub macht.
Ich bin ja nur dankbar, dass sie ihm nicht zugestimmt hat. Ich habe schon Angriffe von einzelner solcher wilden Bestien über mich ergehen lassen müssen. (Gehstöcke im Besitz alter Frauen sollten sowieso als tödliche Waffen eingestuft werden, finde ich.) Wer weiss, was passiert wäre, wenn sie mich zu zweit attackiert hätten?

Zusammen mit etwa 40% der 1,5 Mio. Einwohner zählenden Stadt werfe ich mich an die an der westlichen "Küste" gelegenen Park. Der "Park" besteht aus quasi 100% halbverdorrtem Gras und 0% Bäumen - ein typischer Winterpark, in dem im 35 Grad heissen Sommer keinerlei Hoffnung auf Schatten besteht. Im Winter wird hier aber rege gejoggt, flaniert, und vor der abartig riesigen Konzerttribüne gestanden. Auf der Konzerttribüne wird keine Musik gespielt, sondern es werden etliche Opfer aus dem Publikum öffentlich gefoltert. Ich bin nicht ganz sicher, aber hier die Fakten: Erst werden sie befragt, und dann wird einigen von ihnen von einem grinsenden fetten Showmaster etwas Hässliches (ein Plüschtier?) in die Hände gedrückt, worauf die Armen gottsjämmerlich zu Kreischen und Springen beginnen. Ich wende meine Augen davon ab und dem weiteren Weg zu. Die Ohren leider sind noch einen weiteren Kilometer der von etlichen 1000W Lautsprechern verbreiteten Kakophonie ausgesetzt.
Showmaster hier sind übrigens generell fett und abysmal unansehnlich - und um diese Konzentration an geballter Hässlichkeit auszugleichen, stellen die gewieften TV-Show-Produzenten jeweils mindestens 20 mutige schlanke, meist schöne Frauen direkt hinter die Abomination ins Bild. Das wirkt meist ausgleichend, manchmal aber ist der so verstärkte Kontrast ungleich schwerer auszuhalten.
Ihr seht, das Fernsehen hier ähnelt stark dem Italienischen. Minus ein Berlusconi. *g*

Die Strasse, die durch den Park führt, wird links und rechts von etlichen Ständen und Verkäufern begrenzt, die süsse Früchte, Süssigkeiten, süsse Fruchtsäfte, Fruchtsäfte mit Zucker, oder Fruchtsäfte mit mehr Zucker verkaufen. An Zucker mangelt es hier jedenfalls nicht - ich frage mich auch, ob denn Vampire sich zum Dessert des Öfteren einen Brasilianer schnappen. (Aromen sind hier alle vorhanden, von Vanille bis Schokolade ;) )

Eigentlich wollte ich ja mit dem Tagebuch stark aufholen, daher hurtig, hurtig voran!

Ich schreite also weiter auf der Karte nach "oben" (Für meine weiblichen Leser *g* Neinnein, die Erklärung folgt später), bis zur Usino do Gasometro ("Gasometerfabrik"?), ein Kulturzentrum. An einem lauen Sonntagnachmittag scheint aber die Kultur besonders aus Zuckerwatte und in Zucker gehüllte Nüsschen zu bestehen, weswegen ich dort nicht länger verweile, sondern quer nach Downtown eile.

Downtown Porto Alegre erinnert mich stark an Downtown Los Angeles: Von weitem locken glitzernd grosse Wolkenkratzer, kommt man aber näher, merkt man, dass die ersten drei Stöcke ziemlich schäbig und zerfallen aussehen, und man fragt sich, wie lange das Bauwerk noch zu stehen vermag. Überall auf den Strassen verkaufen Händler ihr Gut (ihr Schlecht?): Kopierte CDs inklusive Hüllen, billige T-Shirts, Schuhe, und die auf der Welt überall zu findenden Rastafari-Jamaikaner-Kappen.

Anhand der mittlerweile total zerfetzten Karte, die ich am Anfang von Rita ("Hita"), der Austauschstudenten-Halterin der PUCRS gekriegt habe, versuche ich mich zu orientieren. Aber egal, wohin ich gehe, irgendwie finde ich mich immer in der gegenüberliegenden Richtung wieder. Was ist passiert? Ich, der über einen - und ich bin stolz darauf - ziemlich guten Orientierungssinn verfüge, verläuft sich andauernd? Meine Selbstsicherheit stolpert kurz, kann sich aber kurz darauf noch knapp an einem Wissensstrohhalm fangen, der an einer vergessenen Klippe hervorlugt: Südlich des Äquators scheint die Sonne im Norden! "Elementary, my dear Flolmes!" werden einige von euch sagen, aber mein Gehirn hat irgendwie automatisch angenommen, die Sonne wäre im Süden. Keine Ahnung, wie ich das vorher gemacht habe - ich denke, ich hatte es nie nötig, da ich mich anhand der Strassen orientiert hatte.
Plötzlich jedenfalls orientiere ich mich ohne Weiteres, die Karte im Gehirn ist gedreht - es kann weitergehen.

Als Nächstes versuche ich, zum Park "Farroupilha" zu gelangen. Der Name vom Park kommt von einem Mann, der um 1870 herum nach Unabhängigkeit vom restlichen Brasilien strebte. Inklusive tausender Mitstreiter und zirka 20 Kanonen. Pech für ihn, dass die Armee Brasilien über mehr als hunderttausend Soldaten verfügte. Glück für ihn, dass sie etwas ineffizient vorgegangen sind. Ergebnis: Der Staat Rio Grande do Sul ist nicht unabhängig, aber die Menschen hier versuchen sich mit allen Mitteln vom Rest abzuheben. (Doch das ist ein dickes Thema für später einmal)
Der Park ist ziemlich schön - ebenfalls etwas am Zerfallen, aber ich gewöhne mich an den generellen Anblick. Auffällig sind die vielen Leute, die einem typischen Gaùcho-Hobby fröhnen: Dem Mate-Tee-Trinken. Die nicht etwa aus goldgeränderten Porzellantässchen, sondern aus braunen, gebrannten, ziemlich merkwürdig geformten Trinkgefässen. Oben ein Rand, auf dem das Teepulver balanciert wird, dann eine Verengung, um das Pulver oben zu halten - schliesslich unter eine Verdickung, um den Tee mit dem Wasser zu mischen. parallel zum Gefäss verfügen die Trinker über einen Thermoskrug mit heissem Wasser, das sie über den Tee auf dem Rand fliessen lassen. Aber nur über einen kleinen Teil, so dass sie immer weiter Wasser nachgiessen können. Zwischendurch wird getrunken. Dies durch einen metallenen Strohhalm, der am unteren Ende über einen Filter verfügt. Der Filter stoppt das aufgelöste Pulver und lässt nur den bitteren Tee durch.
Und wenn ich bitter sage, meine ich bitter. Ganz im Kontrast zu all den Süssigkeiten, mit denen man hier beworfen wird. Eine bittersüsse Kultur?

Im Park merke ich auch, wieso mich die Leute doch recht verwundert anschauen. Erst verdächtigte ich meine ungekämmte Frisur, dann aber folge ich den Blicken und merke, dass sie auf meine Knier zeigen. Vermutlich die einzigen freigelegten Knier in Porto Alegre! Alle anderen haben sich trotz der grossen Hitze in langen Hosen in die Sonne gelegt. Ist es zu merkwürdig, im Winter in kurzen Hosen durch den Park zu schlendern? Sind die Kleider hier nicht von der Temperatur, sondern von der Jahreszeit abhängig. (Eine weitere Woche an Beobachtungen in heissesten Temperaturen lassen mich das glauben...)

Irgendwann mache ich mich zum Shoppingcenter auf, bestaune mit Verwundern eine etwa 500 Meter lange Schlange aus kleinen Mädchen, die dann schliesslich im grossen Barbiehaus (aha!) in der Mitte des Zentrums führt. Im anderen Shoppingcenter gibt es dasselbe für grosse Mädchen - Modelagenturen und Makeupgeschäfte veranstalten täglich eine Show, bei denen normale (d.h. "normale" ;) ) junge Frauen sich ebenfalls in elendiglich lange Schlangen stellen, um irgendwann professionell geschminkt und gekleidet zu werden, um wenigstens für 15 Minuten die für sie glamouröse Luft des Modelings zu schnuppern. Ich hoffe mal, dass immerhin eine von ihnen den bitteren Geruch der Drogen und der Ausnützung wahrnehmen kann...

Zurück zum Center Praia de Belas: Etwas benommen vom langen Tag stehe ich vor dem McDonalds, und versuche mich mangels Alternativen für etwas zu entscheiden. Kaum habe ich die erste Zeile überflogen, springt mich schon die hilfreiche Frau, die dafür bezahlt wird, Menschen unter Kraftanwendung ("Charme" genannt) vor die Kasse zu schieben. Ich erkläre ihr, dass ich kein Portugiesisch spreche ("Não fala Portuguese"), was sie damit beantwortet, dass sie die restlichen Mitarbeiter vor mich schiebt. Das hilft nicht wirklich, um mich entscheiden zu können - besonders auch, weil diese ebenfalls nicht Englisch sprechen. Die Menschen sind generell sehr bemüht, einem zu helfen, oftmals hilft es aber einfach nicht, auch wenn man sich noch so bemüht! (Dann kann es einem doch recht auf die Nerven gehen) Schliesslich kritzle ich ein paar Esswaren auf einen Zettel und halte diesen vor die Verkäuferin. Victory, at last! :)
(Später beim Essen - d.h. als der Burger meine Geschmacksknospen erdrückt - merke ich, dass der Sieg ein Pyrrhussieg ist und ich schwöre mir, hier nicht mehr bei McDonalds einzukehren, auch wenn ich dort einigermassen bestellen kann)

So, in Kürze den Rest des Abends:
Ich lerne die Freundinnen von Mrs Suelé kennen, und wir versuchen uns auf Französisch und Italienisch zu unterhalten. Klappt ganz gut. Dann gucke ich noch bei einem Nachbar (ein Jurastudent) den Fussballmatch Brasilien-Argentinien, während er mir die Konjugationen des Portugiesisch beizubringen versucht. Klappt ebenfalls gut. Ein irrwitziges Spiel übrigens, als es (BRA-ARG) 0:1, dann 1:1, dann 1:2, und schliesslich in der Nachspielzeit 2:2 steht. Im Penaltyschiessen gewinnt Brasilien!
(Der Vulkan Porto Alegre bricht kurz aus, um dann für 3 Stunden nicht zu verstummen)

Samstag, 24. Juli 2004

Mrs Suéle

Gestern kriegte ich eine E-Mail von IAESTE Brasilien, sie hört sich etwa so an:
"Florian! ENDLICH hast Du eine Unterkunft! Adresse folgt: . Begib Dich doch so schnell wie möglich dorthin!"
(Sobald ihr wisst, dass ich diese Adresse bereits in der Schweiz schon mal gekriegt hatte, irgendwie aber das lokale IAESTE Kommitee dies nicht mitgekriegt hatte, und mich dann in das "Shithole", O-Ton Felipe, gesteckt hatte, könnt ihr vielleicht verstehen, dass ich mich nicht sooo gefreut habe. Nojo.)

Na, aber so schlimm war ja der alte Ort gar nicht. Ich fands eigentlich noch cool. Ein wilder Eintrittsritt für schlappe 140 Reais. Aaaaaall part of the experience! :)

Gleich um 7 Uhr morgens flüchte ich so schnell wie möglich aus der Unterkunft und hopse frisch motiviert Richtung Mrs. Suèle, der Haushälterin des neuen Wohnorts. Wird es nochmals dasselbe sein? Wird es besser? Gar schlechter? Nach einem ausgedehnten Morgenessen in der Shopping Mall (Bourbon) erreiche ich um 8 die neue Behausung, an der mich eine ziemlich verschlafen aussehende (Samstag) Mrs. Suèle empfängt. Später fällt mir auf, dass sie recht oft so aussieht. Hm. Die Wohnung, die ich kriege umfasst etwa 100 Quadratmeter, verstreut auf etliche Zimmer. Ich tippe so auf 8 kleine Räume. Aber welch Luxus! Küche, zwei Klos, drei Duschen, Waschmaschine, Trockner, fünf Betten. Alles für 200 Reais (~80 Franken) pro Monat! :)
Mrs. Suèle kann übrigens nur Portugiesisch - lustig, kann ich nur sagen! (Sie entschuldigt sich profus dafür und ich entschuldige sich mich ebenso dafür, dass ich kein Portugiesisch kann. Manchmal schaffen wir es zwischen all den Entschuldigungen auch, etwas Information auszutauschen. Aber nur manchmal. ;))

Fragt mich nicht, wieso, aber als Nächstes gehe ich ins grösste Shoppingcenter von Porto Alegre. Ein Alp-/Traum aus Glas und Marmor. Als Ausrede könnte ich anbringen, dass ich von den Massen in den Bus geschwemmt und dann vom reissenden Strom an Shoppern wieder dem Bus entspült wurde. Aber das stimmt nicht ganz. Ich wollte einfach das grösste Shoppingcenter von Porto Alegre sehen. Den puren Wahnsinn an Kaufrausch. Die volle Kaufkraft. Den mächtigen Fluss von Geld.
Aber das mit dem Bus ist übrigens nicht ganz unkorrekt. Samstagsshopping ist nämlich international anerkannt. ;)Doch erst ein kleiner Exkurs über das lokale Bussystem...

Ich verfüge über eine grobe Karte von Porto Alegre, und eine kleine Broschüre aller Buslinien. Sollte eigentlich reichen, sich hier mit dem Bus zurechtzufinden. HA! Nicht ganz, mon frère. Die Buslinien nämlich sind nicht etwa über eine Karte projiziert, sondern wurden auf die Karte projiziert, und dann wurde die Karte wieder entfernt, so dass nur noch die wichtigsten Referenzpunkte bleiben. D.h. wenn man sich die etwa 30 Buslinien vor Augen hält, blickt man auf etliche Pfeile und Linien, die separat voneinander dargestellt werden. Dazu ändern sich die Buslinien sehr oft. Was also tun? Man versucht, die Buslinien mit der Karte in Übereinstimmung zu bringen. Dann begibt man sich zur nächsten Bushaltestelle. Die Bushaltestellen hier sind übrigens einfach Affären aus einer gedeckten Bodenfläche und einem Busbildchen. Keine Infos, wer hier durchfährt, und wann. Zürcher! Ich kann euch nur sagen, ihr seid verwöhnt! :)
Also wartet man (und das kann dauern), bis der gewünschte Bus auftaucht. In der vorderen Hälfte des Busses ist ein Drehkreuz angebracht, neben dem ein Mann oder eine Frau sitzt. Die Männer versuchen durchgehend wie Will Smith in diesem Alienfilm mit den roten Vergess-o-Maten auszusehen. Da man kein Arbeiter von Brasilien ist (und Bustickets für 80 Centavos, d.h. 30 Rappen kriegt), drückt man dem guten Mann 1.55 Real in die Hand, worauf er einen durch das Kreuz passieren lässt. Wehe aber dem, der kein Kleingeld dabei hat. Dann ist man dem Drehkreuziger ausgeliefert, und man darf hoffen, dass einem die 10 Reais Note gewechselt wird. Dafür darf man dann aber auch so weit fahren, wie man möchte, oder zumindest bis zum Terminal. Will man aussteigen, wirft man sich einfach flach in den Strassengraben. Huch? Nein, man zieht an einem Seil, das sich durch den Bus zieht, und drängt sich dann unter Anwendung Quasi-tödlicher Kampfsportarten zum hinteren Ausgang.

Soweit zu Busfahrten. Nervös steige ich in den Bus, krame das nötige Kleingeld aus der Tasche, und setze mich in den Bereich für Invalide. Schliesslich bin ich Tourist, also teilinvalid (effektiv stumm und taub). Zu Invaliden zählen übrigens auch Schwangere, Fette und Alte. Politisch inkorrekt, dafür sind die Sitze etwas besser gelegen und leuchtrot, damit man nicht selbst auf den eigenen problematischen Zustand hinweisen muss.
Der Bus ist prallvoll - ich versuche trotzdem ab und zu subtil die Karte hervorzuholen und einen Blick darauf zu werfen, um zu wissen, ob ich jetzt dann aussteigen muss. Ich gebe aber auf und versuche über die Köpfe hinweg das Einkaufszentrum zu erhaschen. (Ziemlich einfach übrigens, die meisten Leute hier sind sehr klein - mit Ausnahme von einigen jungen Menschen, die sogar grösser als ich sind. Ich habe sowieso den Eindruck gekriegt, dass generell die Menschen recht schnell viel grösser geworden sind. Ernährung ist sicher ein Grund dafür. Aber was hat sich geändert? Mehr Fleisch? Mehr Medikamente im Essen? Zu oft Basketball geschaut? ;) Nein, aber im Ernst, würde mich echt interessieren.)

Ich kann das Einkaufszentrum nicht verfehlen. Seitlich sieht es aus wie die Titanic. Jedenfalls ist es so gross, und als der Bus weiterfährt, leer übrigens, schwimme, rudere ich im rauschenden Strom zum Eingang...

Zum Einkaufszentrum nur kurz (Ich meine, es ist nicht diiiie kulturelle Entdeckung) die folgenden Beobachtungen:
Extrem edel aufgemacht. Sehr billig. D.h. die Preise entsprechen von der Zahl her genau den Schweizer Preisen. D.h. Schuhe kosten so 250 R$, aber da der Wechselkurs bei flotten 2.5 oder so liegt, ist alles 2.5 mal billiger. Fast ausnahmslos. (Ausnahme: Technologie, also Computer, Hi-Tech Elektronik usw.)
Ich gucke mir Shrek auf Portugiesisch an - um mich herum alles Kinder mit ihren Müttern, die mich verdächtigend Beäugen. Mir fällt sowieso auf, dass ich recht oft angestarrt werde. Bin ich so gross? Starre ich die ganze Zeit? Wegen was? Die Antwort dann, als mich viele wegen meiner Augen befragen. Zwar sind die Leute hier sehr, sehr gemischt, aber bisher habe ich keinen einzigen Asiaten erblickt! Einige später geäusserte Kommentare lassen mich wundern, ob ich sogar hier etwas speziell "auffalle". Nicht, dass ich gross auffalle, aber doch recht viele haben meine Mischung aus dunkler Haut und asiatisch anmutenden Augen als "merkwürdig" kommentiert.
Am Mittag grüble ich recht lang drüber nach, wieso die Leute hier so krass gemischt sein können und ihnen trotzdem noch solche Dinge auffallen. Kann ich denn nirgendwo unter "meinen" Leuten sein? (Schrie er gen Himmel ;) )
Nein, quatsch. *g*

Danach wende ich mich dem neu erstandenen Sherlock Holmes zu ("Um estudio em vermelho" A study in red?) - bergeweise Seiten an Portugiesisch. Parallel zum Churrascão im Magen versuche ich es zu verdauen, und erreiche immerhin drei Seiten. Jetzt kenne ich die erste Hälfte der Lebensgeschichte von Watson, wenn mich nicht alles täuscht.

Der Tag endet dann damit, dass ich mich im grossen Supermarkt im Shoppingzentrum verlaufe im Versuch, ein Waschmittel zu finden...

Freitag, 23. Juli 2004

Federal Police vs. Flo (Halbzeit, 1:0)

Zum Titel: Der Zwischenstand war ja auch zu erwarten. Auf der einen Seite eine staatliche unterstützte Organisation mit etlichen Millionen Jahresbudget und Tausenden von Mitarbeitern, auf der anderen Seite ich, Budget ... *zähl* 83 Reais und 45 Centavos, mit mangelhaftem Portugiesisch, aber von feurigem Geblüt! ;)

Aber erst mal zur Kantine der PUCRS - ausgezeichnet, kann ich nur sagen! Mit den "Cliente Freqüente"-Scheinen (Das "ü" übrigens kein Schreibfehler - es deutet darauf hin, das man das "que" nicht als "g'he", sondern als "gue" aussprechen soll), die mir ein freies Mittagessen bescheren, inklusive Getränk, stolpere ich über den Eingang des nicht mal so grossen Gebäudes. Am Eingang wird mir ein Zettel in die Hand gedrückt, auf dem alle meine getätigten Einkäufe notiert werden. (Ganz ähnlich funktioniert es hier übrigens in den Clubs - wenn man dort aber den Zettel verliert, zahlt man den maximal angenommenen Betrag, den ein Mensch vertrinken könnte. Letztens war ich in der Acqua-Bar, in der man bei Verlust des Zettels sage und schreibe 300 Reais zahlen musste, was etwa 50 Drinks entspricht!) Felipe meinte, dass jeder Austauschstudent, der hier 3 Monate verbringt, nachher 7 kg schwerer nach Hause geht. Wie das geht? Nunnnn, die Kantine hat erstens eine grosse Auswahl an verschiedenen Gerichten, zweitens ist das Essen sehr gut, drittens verfügt sie über edelste Desserts, schliesslich aber der Hauptgrund: Sie ist à la discretion! (Übersetzung: Das Mittagessen ähnelt nicht einer angenehmen Essenseinnahme, sondern einer Willensprobe. Wird man je aufhören können, sich zu den unvergleichlichen Sushi-Häppchen, dem lockenden Gemüsereis, dem genialen Milchreis zu begeben? :) )
Und dann ist da natürlich noch das Churrascão ;)
Oioioi.

Am Nachmittag dann die Federal Police.
Der Grund: Ich will einen Ausländerausweis - ein Zettel mit Foto, übrigens.
Im holprigen Bus fahre ich zu dem auf der mangelhaften Karte mit einem Punkt markierten Ort. Die Strassen hier sind ziemlich staubig, und von Katalysator keine Spur, was meine an Luft, die durch grünste Wälder, taubenetzte Blättermeere usw usw. gefiltert wurde, gewöhnte Lunge doch recht strapaziert. (Ehrlich gesagt, ich kämpfe auch jetzt noch damit und vermutlich wird es sich nicht ändern) Die Luft nahe der Strassen hier ist unglaublich petrolgeschwängert!

Zur Absicherung frage ich dann doch noch einmal kurz eine alte Frau, wo denn die "Policia Federal" sei (Desculpe, Onde Fico O Policia Federal?). Worauf sie mich mit einem Schwall an Portugiesisch übergiesst, sie dann aber - rüstig, ich bin beeindruckt - meinen blanken Blick bemerkt und nachfragt, ob ich vielleicht irgendeine Fremdsprache spreche? Zu meiner Überraschung spricht sie perfekten Schleswig-Holsteinschen Dialekt (falls es sowas gibt) - und informiert mich auch gleich darüber, dass sie Ende Weltkrieg ausgereist sei.

Natürlich ist der einzige Mensch, der bei der Bundespolizei Englisch kann, in seiner Pause, und so wird der erste Freiwillige (eine sich sehr bemühende Frau) mit mir konfrontiert. Ich kann nur sagen, Zirkus ist nur halb so spannend - versucht doch einmal, zu einer Behörde zu gehen, und nur mit Handzeichen ein Formular zu verlangen.
Um mich kurz zu fassen:
Ich kann mein Visum nicht verlängern, sondern muss (Achtung, jetzt kommts) vor Ende der Zeit ausreisen und dann wieder einreisen - um einen Touristenstempel in meinen Pass zu kriegen! *gnaha* Damit kann ich dann weitere drei Monate im Land bleiben. Interessanterweise kann man das Touristenvisum im Land verlängern, da ich aber den Typ ändere, muss ich ausreisen und wieder einreisen.
Gut, wohne ich so nahe an der Grenze. :)

Entschuldigung übrigens, wenn die Berichte etwas kürzer werden, aber ich muss aufholen. Ich verspreche aber, dass sie nie das "Heute habe ich gegessen. Dann geschlafen."-Niveau erreichen werden :)

An dem Tag denke ich auch darüber nach, wie es sein kann, dass die jungen Leute hier relativ gut aussehen, die Alten dann aber relativ schnell nicht mehr. Könnte es sein, dass das Leben in einem industrialisierten Drittweltland (wie z.B: die USA *gg*) doch recht an den Kräften zehrt? Auch gibt es hier relativ wenig alte Menschen. Felipe meinte aber dazu, dass die Lebensbedingungen ziemlich gebessert haben, jedenfalls hier in Porto Alegre (DER Stadt in Brasilien mit der höchsten Lebensqualität!) - und dass die Anzahl alter Menschen stark im Steigen befindlich sei.

Apropos obige USA-Bemerkung. Die Umgebung hier erinnert mich doch recht stark an Suburbia, USA. D.h. Mächtige Strassen, Autos über Autos, Tankstellen über Tankstellen, billig, Essen in rauhen Mengen, viele Fastfoodketten, Abfall.
Möglicherweise tu ich der Stadt unrecht, aber viele Orte hier sehen aus, wie wenn sie ständigem Verfall ausgesetzt wären. Vielleicht werden die neuen Gebäude direkt auf den Trümmern der Alten gebaut, und wenn man etwas länger gräbt, kann man Teile von wunderschönen Bauten aus dem 19. Jahrhundert finden? ;)


Bisher hatte ich noch nicht den Mut, meine Kamera herumzutragen. Aber dazu ist ja noch Zeit, die Stadt rennt nicht weg.

Donnerstag, 22. Juli 2004

Churrascão

Die Nacht (siehe unten) beginnt hier übrigens schon so um 18 Uhr. Um dieselbe Zeit also mache ich mich Richtung "Bett" auf. Doch ich habe die Rechnung nicht ohne die Wachmänner des Supermarkts und ihr hübsches gepanzertes Geldfahrzeug gemacht. Wie bereits erwähnt müde stolpere ich seitlich an Selbiges heran, bis mir der Uniformierte auffällt, der subtil auf seinen bewaffneten Zustand aufmerksam macht. (Pistole an Scheibe klopf) Genauso subtil weiche ich zurück (Die Arme rudern fast unmerklich, das Herz setzt erwartungsvoll ein Sekündchen oder zwei aus). Erst danach bemerke ich die ziemlich grosse Aufschrift auf der Seite: "Nicht dem Fahrzeug nähern!" (was mit meinen momentanen Sprachfähigkeiten mit "Não approxima o vehiculo, Tchê!". Tchê ist ein Kraftausdruck, kann aber für eigentlich alles gebraucht werden, auch als "Kumpel")
Viel sympathischer sind mir die Panzerfahrzeuge hier auf dem Gelände der PUCRS. Nicht nur haben sie die Form einer mittels eines Hammers in quadersche Form gebrachte Blechdose, auch sind sie Rosa und Violett bemalt! Eines Tages werde ich den aussteigenden Wachmännern auflauern: Ich bin sicher, es sind alternde Hippies mit Stirnbändern und Blumen in den Haaren... (d.h. sie sind mindestens so gefährlich wie normaleWachmänner. Anm. der Red.: Aussage gründet auf der Lektüre mehrerer TC Boyle Bücher)

Bevor ich das Haus erreiche, lasse ich mir beim Schlüsselkopierer noch eine Kopie des Hauptschlüssels machen. Der Schlüsselkopierer hat sein Geschäft in einem 80 cm x 120 cm x 195 cm grossen Holzkistchen, das sich so etwa 50 Meter von unserem Haus entfernt befindet. Zwar versteht er kein Wort Englisch, und ich noch nicht genug Portugiesisch (ich verdächtige ihn auch des freien Rumslangens, da ich nun wirklich absolut gar nichts verstehe). Dennoch, er erzählt mir doch ziemlich viel - ich räche mich dafür mit ein paar Brocken Portugiesisch und reichlich Englisch. Irgendwie erinnert mich die Situation an die im Film Ghost Dog - und wir könnten dicke Freunde werden, würde er denn Glaces anstatt Schlüssel verkaufen. :) (Das Kopieren des Schlüssels übrigens inklusive Schlüssel kostet mich 2 Real, d.h. 80 Rappen)

Freudig mache ich mich zur Unterkunft auf. Das erste Hindernis stellt sich sogleich - die Gittertür. Zwar kann ich sie mit dem soeben kopierten Schlüssel öffnen, aber das Kettenschloss ist erstens auf der anderen Seite, und zweitens muss man Gummi-Man als Kollegen haben, oder eine Ausbildung in die geheimen Künste der Chinesischen Schlangenfrauen genossen haben. Es erübrigt sich wohl, zu erwähnen, dass für mich keins der Beiden zutrifft. ;)Andererseits wohnt in mir der unerschütterliche Hauruck-Optimismus eines Schweizers, so dass ich unter einigem Ächzen und Stöhnen es schaffe, den Schlüssel von innen ins Schloss zu stecken, und ihn sogar umzudrehen. Etwas zermürbend ist die Tatsache, dass ich den amüsierten Blick des Unterkunftsbesitzers nur so in meinem Nacken spüren kann.

Schliesslich das Zimmer. Dazu später wie versprochen die Bilder. Wofür ich übrigens 140 Reais hingelegt habe. (D.h. eigentlich hätte es 150 gekostet, aber ich habe in einem Anfall von Zürcherischer Schläue gesagt, ich hätte nur 140 dabei. Szenenwechsel zu Flo, der sich im Supermarkt für die gesparten 10 Real königlich verköstigt :) ) Ich lege mich aufs Bett, das mit meinem Vorgehen nicht wirklich einverstanden ist, und mit einem jämmerlichen Knarren und Knirschen antwortet - eine Inspektion der "Lättli" legt ein Gebastel an Holzbrettern frei, vor dem die Entdecker der göttlichen Bicoflex-Philosophie heulend davonrennen würden. Ich füge meinen Namen den etlichen Vorgängern hinzu, indem ich mich ebenfalls daran mache, das Bett zu verbessern.

Ein Besuch auf dem Klo - zum Glück wurde ich von Kristina davor gewarnt, das WC-Papier ins Klo selbst zu werfen (man faltet die hier und legt sie in den bereitgestellten Abfall) - der besser endet, als ich je erträumt hätte. Endlich lege ich mich um 9 Uhr Abends ins Bett. Völlig übermüdet schaffe ich es knapp noch, die ersten drei Seiten des National Geographic Brasil (auf Portugiesisch) zu lesen und sinke dann zwischen neu gekaufter Decke und zerfetzter "Matratze" (Handgeschnitztes Abenteuer aus Schaumstoff) in den Schlaf.
Dann, um halb drei Uhr morgens werde ich vom Nachbar geweckt, der sich mit Brasilianischen Soap Operas vergnügt. Ich kann euch nur bitten, euch nie sowas anzutun. Nur schon der Ton! Ich kämpfe mich dann zu wirren Träumen zurück, in denen ich als Gaucho ("Ga-UUschooo") über die Steppe reite und mit meinem tödlichen Bart des Todes alle Kakteen, die mich in Soap Opera Stimmen anreden, bärtig zu Boden barte.
Um 4 Uhr dann ertönt irgendwo ein Wecker (*üüÜÜüü üüÜÜüü üüÜÜüü*), dessen Batterien bis 5 Uhr reichen. Den Kopf in die Decke gehüllt verdamme ich alle starken Batterien und stelle mir vor, wie Heerscharen von pinken Duracell-Häschen trommelnd, lemminggleich ins Meer stürzen...
Um 7 Uhr gebe ich jegliche Illusionen auf einen tiefen, gesunden Schlaf auf, und mache mich zur Dusche auf. Die Dusche wie erwähnt ein Durchlauferhitzer, der an der Wand befestigt ist. Meine Dusche ist das simplere Modell, bei dem der Erhitzer deaktiviert wurde. Ich entscheide mich also für eine Katzenwäsche und mache mich auf in Richtung Labor. Der Weg ist nicht wirklich eine Beschreibung wert, aber die Umgebung ähnelt dem, was man so in Filmen über Mexico gesehen hat. Was ich nicht weiss, ist, dass ich auf der Slum-Seite des Flusses gehe, vor der mich danach alle warnen... (Erinnerungen an eine durch und durch naive, aber spannende Busfahrt in die Mitte von Los Angeles werden geweckt)

Das Labor! Ganz kurz - später mit Fotos.

Felipe Falcão - Research Assistant. 25.
Gustavo - Ingenieur? Irgendwo in den 20ern.
Maaaaario - Italienischer Abstammung. Unterhalte mich mit ihm auf Italienisch. Tennisspieler. Feinmechaniker. Etwa 50.
Carlos Schossler - Deutscher Abstammung. Kann leider kein Deutsch. Feinmechaniker.
Eduardo - Optiker.
Steiger - Optiker.
Coelho (der Hase) - Pilot.
Fonseca - Tänzer, Sänger, und Pilot.

Später mehr zu den Leuten, was sie machen, und so weiter. :) Jetzt aber endlich zum Titel des Eintrags!(Ich halte mich aber etwas kurz, damit ich eine Chance habe, meinen Rückstand aufzuholen) Abends sind wir bei Felipe zu Churrascão ("Churras-cu") eingeladen. Vegetariern sei nahegelegt, ihre unschuldige junge zu ermordende Karröttchen gewöhnten Augen ;) keusch abzuwenden. Denn was jetzt kommt - es ist nicht schön, das kann ich euch sagen.

Anleitung für ein Churrascão:
1. Man begebe sich in einen Supermarkt und kaufe sich für horrend tiefe Preise möglichst viel Fleisch. Das Fleisch soll bestehen aus möglichst vielen verschiedenen Typen. D.h. Filet, Hohrücken, usw usw. und zum Schluss noch eine Packung Hühnerherzen mit etwa 100 Herzen.
2. Wenn man will kann man noch aus Alibigründen ein, zwei Chipspackungen und Brot kaufen.
3. Bier (Hat hier übrigens recht viele deutsche Biere - und wenn sie nicht aus Deutschland kommen, so heissen sie immerhin "Bavaria" o.ä.)
4. Das Fleisch wird am Zielort ordentlich mit Salz eingestrichen, die Hühnerherzen in einer Salz/Zitronensaft/Bier-Mischung eingelegt, und schliesslich auf einen mächtigen Grill eingelegt.

5. Man warte 1 Stunde und knabbere dabei am Brot.
6. Das Massaker beginnt...

Unser Churrascão endet dann damit, dass Fonseca unbedingt will, dass die Spanischen Austauschstudenten (Santiago und Christina - zu den Beiden später mehr) zusammen Flamenco tanzen. Der Abend endet dann damit, dass ich Christina Tango beibringe, Fonseca perfekt Flamenco tanzen kann und sonst generell alle mehrere Gedanken an die baldige Flucht verschwenden. Leider habe ich davon keine Fotos, aber ich kann euch sagen, es ist besser so. (Quatsch - beim nächsten Churrascão gibt's Fotos!)

Mittwoch, 21. Juli 2004

Kalt Duschen, Teil I

Schon ziemlich viel erlebt, aber der Tag ist noch lange nicht zu Ende!

Denn jetzt erst kommt... Porto Alegre! ("Portu Allegri" - "Fröhlicher Hafen", oder auch "Hafen der Freuden"? Ob von langen Ozeanreisen gezeichnete Seebären den Ort so genannt haben, unter Mithilfe der lokalen Bevölkerung? :) )

Erste Eindrücke:
Anflug bei strahlendem Wetter über ziemlich vielen Pflanzen - die "Lagune" gegenüber der Stadt. Südlich von mir die einigermassen grossen Wolkenkratzer, gefolgt von der der 737-300 eigenen Holper-Stolper-Iiietsch-Quietsch Landung.
Wir alle applaudieren herzlich, als die Bremsen sich gemächlich an die Arbeit machen...

Porto Alegre wurde etwa Mitte des vorletzten Jahrhunderts von Deutschen, Italienischen, aber auch Schweizerischen Siedlern gegründet. Auf dem Flugzeug lerne ich den Enkel (und dessen Ehefrau) eines Deutschen kennen. Wir bewerfen uns gegenseitig mit Sprachbrocken - ohne nennenswerte Schäden. Im Gegenteil - ich entdecke, dass wenn man Italienisch zu sprechen versucht, dabei die Lippen und Backen hamsterhaft hängen lässt, man dem Portugiesisch, das hier gesprochen wird, sehr nahe kommt.

Als Erstes erkunde ich mal den Flughafen. Irgendwo auf dem ersten Stock tippt mir ein Typ auf die Schulter - und stellt sich als Mauricio vom lokalen CI (Central do Intercambio) Kommitee vor. Sein Englisch ist mehr als gebrochen - ein Mehrfachbruch am Schienbein. Daher bin ich erst mal etwas misstrauisch - Spider Senses tingling! Vielleicht etwas übereifrig, aber wenn noch ein zweiter Typ dazukommt, und die Beiden einem in Richtung eines Autos schubsen... Ich hab dann non-chalant versucht, einige schwierige Fragen zu meinem Aufenthalt zu plazieren, was sie mit Bravour bestanden haben.

Mittlerweile bin ich doch sehr müde, daher die folgende Beschreibung etwas knapper als die Vorhergehenden...

Endlich komme ich bei der Universität an - PUCRS, auch "Puggi" genannt. Ich werde Felipe Falcão vorgestellt, der mich dann im Labor herumführt. Wie gross, denkt Ihr, ist dieses Labor oder sind diese Labors? Hier die Bilder von der News-Seite...

*umguck* Ich tippe so auf 10x8 Meter. Bin doch ziemlich überrascht, da ich mehrere Räume erwartet habe. Auf dieser Fläche befinden ("herumliegen" ist präziser ;) ) etliche Prototypen für den Raumfahrt. Zum Beispiel eine Unterdruckkammer, um die Rückkehr des Astronauten in die Erd-Schwerkraft zu simulieren. (Dabei wird das Blut in die Beine gesogen) Umgekehrt kann eine Aufhebung des Unterdrucks um die Beine und ein folgendes starkes Zurückfliessen des Bluts ins Herz zu Ohnmacht und/oder Herzstillstand führen. Im Deutschen Luft- und Raumfahrtszentrum (DLR) ist das tatsächlich mal passiert. Darum stehen bei solchen Experimenten auch Heerscharen von Ärzten bereit, die sich à la American Football auf den japsenden Astronauten stürzen, um ihn auf die Erde zurückzuholen.
Weitere Prototypen beschreibe ich später...

Der Tag ist immer noch nicht fertig!

Als Nächstes fahre ich mit Felipe zu meiner Unterkunft. Zwar war mir bewusst, dass ich beim Eintritt in ein industrialisiertes Drittweltland jeglichen Anspruch auf Blubberbäder, Vorkoster, und Betten mit Kamelhaarmatratzen aufgebe, aber diese Unterkunft war dann doch ein ziemlicher Zivilisationsschock. (Nächste Woche: Flo entdeckt, dass man hier überall so wohnt! ;) ) Ich denke, ich lasse die später eingefügten Fotos für sich sprechen. Leider waren die Kakerlaken immer schneller als der Blitz der Kamera (von meinem Fuss ganz zu schweigen), so dass ihr nicht in den vollen Genuss der Situation kommt. Mein Zimmer übrigens ist eine kleine Zelle mit zwei knapp als Bett erkennbaren Konstruktionen und einem Schrank.

Dennoch: Die Duschen funktionieren nach dem Durchlauferhitzerprinzip. D.h. im Duschkopf befindet sich eine Heizspirale, die das durchlaufende Wasser erhitzt. Das Nachteil dabei sind die gleich neben dem Duschkopf freiliegenden Kupferdrähte. Der Vorteil dabei ist, dass man die Dusche auch bei pechschwarzer Nacht finden kann: Man folge dem Geruch der Elektrokutionen. ;)

Da es erst etwa 3 Uhr Nachmittags ist, beginne ich mal, die Nachbarschaft zu erkunden. Etwa 100 Meter von meiner Unterkunft befindet sich ein riesiges Shopping-Center. (Am folgenden Wochenende entdecke ich dann auf einer ausgedehnten Mall-Tour verblüfft, dass es das Kleinste der hiesigen Centers ist)
Weitgereiste werden sich schockiert die Hände vor Augen halten, aber ich entscheide mich, Spiderman 2 zu schauen. (Englisch, mit Untertitel) Dazu muss noch erwähnt werden, dass hier vielleicht 1% der Bevölkerung Englisch spricht. Dazu gehören übrigens nur in den seltensten Fällen die Angestellten des Kinos. Mutig schreite ich gen Kasse, die Worte "Homem-Aranha Dois" im Kopf. Man kann wirklich nichts falsch machen.
Doch, man kann. Breit grinsend, die Worte springen von meinen Lippen, das Ergebnis von mir aus gesehen ein Meisterwerk an Fremdsprachenkunst. Dummerweise sind mir die Feinheiten der Brasilianischen Aussprache noch nicht geläufig, und so sage ich anstatt "Omem Arana dois" "Omem Aranscha dois", was nicht Spinnenmann, sondern Orangenmann bedeutet! "Orangenmann Zwei! Jetzt mit noch mehr Vitaminen!" (Die Angestellte gröhlt sich zu Tode, ihr Lachen folgt mir noch bis in die dunklen Gänge des Kinos) Ein unterhaltsamer Film, besonders wenn man sowieso nichts anderes zu tun hat. Trotzdem ist es ziemlich merkwürdig, dass sich niemand über die am Leinwandrand halbierten Untertitel beschwert. Vermutlich bin ich der Einzige, der die Story begriffen hat. Oder wenigstens die untere Hälfte davon ;) mitgekriegt hat.

Schliesslich stolpere ich müde durch den enooooormen Supermarkt (in dem z.B: etwa 37 Spülmittelmarken um "ihr Vertrauen" buhlen). Ich komme mir vor wie ein Papparazzo, als ein Wachmann mir mit vorgehaltener Hand verbietet, vom Supermarkt ein Foto zu schiessen. Ich kaufe noch eine Decke für die kommende Nacht.
Generell bin ich verblüfft, wie billig alles ist. Im Vergleich zur Schweiz kostet hier fast alles 2,5 mal weniger, was in etwa dem Wechselkurs entspricht. Will heissen: Die angeschriebenen Preise könnte man mit einem CHF am Ende auch so in der Schweiz antreffen.
Schliesslich zahle ich an einer der 66 Kassen, der Einpacker stopft die drei Sachen, die ich gekauft habe in drei separate Taschen und entlässt mich mit einem Lächeln in die Nacht...


Flug nach Rio

Was mir auf dem Flugzeug als erstes auffällt, ist wie gemischt die Leute aussehen. Auch spannend ist zu sehen, welche Kombinationen neben denen, die man in der Schweiz antreffen kann, existieren. Sehr dunkle Haare mit dunkler Haut und blauen Augen ist offenbar überhaupt keine Seltenheit. Was ich in der Schweiz auch fast noch nie angetroffen habe, sind sehr, sehr hellbraune Augen. Trotz meiner überaus ausgeprägten Mann-von-Welt-ness und Weitgereistheit (die sich in dem abgeklärten Blick äussert, mit dem ich die übrige Bevölkerung betrachte *gg*), habe ich doch nur ganz selten eine solche Augenfarbe erblickt! (Später wurde mir dann von der hiesigen Bevölkerung eröffnet, dass auch noch ganz andere Zusammenstellungen möglich sind. Z.B: Blond, mit heller Haut und fast schwarzen Augen. Sieht ziemlich ausserirdisch aus. Da weder Mulder und Scully Ausweis schwenkend und per Hechtrolle vor die junge Frau gehechtet sind, muss ich annehmen, dass es sich hierbei um eine normale Erscheinung handelt)
 
Neben mir sitzt Sandra, eine multilinguale Norddeutsche, die einen Südafrikaner in Paraguay heiraten wird, weil es weder in Deutschland, England, noch Dänemark schnell genug ging! Eine weitere merkwürdige Kombination! (Würde es je aufhören? Ich als Hobby-Asiaten-Europäer-Promenadenmischung komme mir mittlerweile recht durchschnittlich, ja fast mickrig vor ;) )
Ebenfalls klärt sie mich über die Vorteile eines 13-Monate-Jahres auf: Frauen brauchen sich nur einen Tag zu merken, es ist "natürlicher"... - ich denke da noch etwas weiter: Einen Monat lang ist man den abergläubigen Teil der Menschheit los, der zitternd in irgendwelchen unterirdischen Bunkern dahinvegetiert. Vermutlich würde die italienische Wirtschaft für einen Monat brachlegen. ;) Kein Wunder hat der Papst dann schliesslich das 12-Monate-Jahr eingeführt, wie wir es kennen. Als Bonus dazu hätten wir noch einen neuen Monat! Und für den 13. Monatslohn müsste endlich auch gearbeitet werden! ;)
 
Um 5 Uhr (MEZ) wache ich kurz auf, um einen genialen Blick auf den Sternenhimmel zu erhaschen, fast genau in dem Moment, in dem ich den Äquator passiere. (Danach ein kleiner Blick auf die Turbine. Ich tätschle sie für ihre zuverlässige Arbeit virtuell :) )
 
Interessant auch, dass die Stewardessen in Varig Flügen einen korrigieren:
Ich: "GuarAna, por favor"
Sie: "GuaranA!"
...
Ich: "GuArana, por favor"
Sie: "Não, GuaranA!"
Ich: "GuaranA, por favor"
*GuaranaA krieg* Ahaaa - Betonung auf letzte Silbe! :)
 
4 Stunden Rio! Samba! Oi!
Oder doch eine riesige Aufenthaltshalle auf dem Flughafen, nie endend wollende Ansagen für Flug RG2745, Verspätungsaufrufe für Senhor Guaguaguagua? Leider schon. Den nächsten Film - das Sequel zu Lost in Translation - dreht Coppola vermutlich auf dem Flughafen von Rio. Oder "Hiiiiiu", wie ein Hiuenser - pardon, Rionese - das sagen würde.
 
Das Erste, was mir auffällt, ist der Unterschied zwischen den ... Pissoirs! zwischen Deutschland und Brasilien. In Frankfurt habe ich wohl das kleinste Pissoir der Welt erblickt. (Bitte keine Witze wie "Das war kein Pissoir, das war der Aschenbecher auf dem Tisch!" ;) ) Kreisrund, metallen, etwa 15 cm gross, ein Meisterwerk an deutscher Präzision, auf der einen wie auch anderen Seite (sprich: Deutsche Präzision meets Schweizer Glück). Ganz das Gegenteil in Brasilien: Unendliche Weiten an Porzellan. Der Gaucho reitet über die Pampa. Rollbüsche holpern gemächlich quer durchs Bild...
 
Die Wartezeit wurde auch vorzüglich durch Steffi überbrückt, einer enthusiastischen jungen Deutschen, die irgendwo in der Campo Grande ("Gampu Grandschi") in einem Kinderheim arbeiten wird. Coole Sache! :)
Während wir da im Café sassen, umspült von vielen verschiedenen Diskussionen und verschiedenen Sprachen, war mir, als würde ich von sowas wie einer Ursprache durchflossen. Hört sich sicher total bedeppt an, aber das Gefühl war, als könnte ich jede Sprache handlen, ohne Weiteres. Habla Espagnol! English, no problem! Uagadougou Bingobongo! ...
Das Gefühl verflog dann etwa genau in dem Moment, als die Serviertochter bei unserem Tisch ankam: "Hablahablão Schhingischingi?" Ich habs dann immerhin geschafft - dank vom Papi gekriegtem Hilfsblatt - einen Cafe com Leite ("Gaffé gum Leitsch") zu bestellen. O Linguisten, jubilieret! :)
 
Was mir ebenfalls aufgefallen ist: Keine Uhren! Gar nicht mal so einfach, wenn die innere Uhr sich gerade mal langsam Richtung Brasilien aufmacht. Natürlich rettet mich mein Handy und die Gewissheit, dass der Tag gerade eben 5 Stunden länger wurde. Ist aber witzig, zu bemerken, dass ich über einen - typisch schweizerischen - Uhrguck-Reflex verfüge. (Der dann natürlich in wildem visuellen Umherirren endete)
 
Weitere sprachliche Entdeckungen:
- Puxe (Ausgesprochen: "Push") heisst übersetzt: Pull. Perfekter running gag für die ersten drei Tage.
- Ein Comic mit einer Katze und einer Maus mit Namen "Hemp & Speed".
- Ausprobieren von Französisch und Italienisch an ebenfalls wartenden Versuchsobjekten. Nein, Touristen. Erster Test erfolgreich.
 
Dann endlich der Abflug nach Porto Alegre. Fast ohne mich: Vor den Gates hatte es drei verschiedene Schlangen, an die ich mich nach dem oft und ausdauernd getesteten "Dem Narren ist das Glück hold"-Prinzip angestanden bin. Gut, dass ich die Familie vor mir dann doch noch um eine Bestätigung des korrekten Anstehens gefragt habe. Kameraschwenk zu wild zappelder und in Richtung richtiges Gate zeigender Familie und einen Flo, der noch ins wegrollende Flugzeug hechtet, während hinter ihm das Rollgate in Flammen aufgeht und dramatische Musik in die Szene überleitet, in der die Stewardesse mich nonchalant ins Flugzeug zieht, um mit einem Lächeln untermalt: "Welcome to Varig, please enjoy your flight, Sir" zu äussern. Glücklich lächle ich zurück, die anderen Passagiere nicken mir verständnisvoll zu und gönnen mir gerne den Whisky, der mir kurz darauf in die müden Hände gedrückt wird... (Ok, nicht wirklich, aber fast)

Dienstag, 20. Juli 2004

Das Abenteuer beginnt!

Schweren Herzens verabschiede ich mich am Dienstagabend bei meinen Eltern. Noch schwereren Gliedern** verabschiede ich mich bei Samantha, der Urheberin besagten Extragewichts und Entführerin in den "Cool, but far too long, Monday".

Trotz der zwei hart erkämpften Stunden Schlaf (d.h. Zwei Stunden plus 5 Minuten, in denen ich meinen Kopf im Kissen vergrabe, in der Hoffnung auf ein baldiges Asphyxieren) keimt in mir das bekannte Gefühl der Flugangst auf, als wir von der Piste abheben. Um genau zu sein, nicht wirklich das Gefühl der Angst, mehr das Gefühl von leichtem Unwohlsein, begleitet von Fantasien gloriosen Untergangs, die Verwandlung in pure Energie per Umweg über einen bei 400km/h über die Piste schiessenden Feuerball. Oder der müde Blick aus dem Fenster, gefolgt von der Erkenntnis, dass sich in Turbine Nummer 3 der Zonk befindet (oder sie gemütlich Richtung Erdboden segelt). Manchmal ist die Fantasie aber auch gnädig und entlässt mich mit einem kleineren Missgeschick der Stewardess (Glühend heisser Kaffee, der auf meine Weichteile plätschert o.ä.). Bin jedenfalls immer noch kein Fan der 737-300-Landungen.

Als ich in Frankfurt auf dem Flughafen ein letztes Mal die Küche Deutschlands "geniesse", sehe ich Folgendes: Der Ober geht in die Küche, und fragt, ob die Spaghetti schon gut seien. Der Koch nimmt diese aus dem Mikrowellenofen, taucht genüsslich seine Hände hinein - noch zu kalt -, und schiebt sie nochmals in den Ofen. Ich gebe natürlich zu, dass ich das Gefühl ebenfalls mag, verspreche aber, dieses Manöver bei künftigen Essenseinladungen bei mir nur gaaanz, gaaanz selten durchzuführen.

Kurz danach eine kleine Überraschung - eine Schwedische Familie steht bei "Pick up here" anstatt "Order here" an. Mit geschmeidigem Schwedisch weise ich sie auf diesen verständlichen Fehler hin und entlasse die mich anstrahlende Familie mit ein, zwei witzigen Sprüchlein und einigen ernsten und durchdachten Bemerkungen zur Schwedischen Aussenpolitik. Nein. Leider nicht. Die Wahrheit sieht so aus, dass ich sie mit Folgendem beworfen habe: "Du kan beställa där!" *zeig* Aber es hat immerhin funktioniert. Noch wusste ich nicht, dass dies ein erster Vorgeschmack auf kommende linguistische Abenteuer sein würde...

Ebenfalls ein erster Vorgeschmack: Die Ticketmaschine für den Boarding Pass ist natürlich kaputt, was eine riesige Schlange zur Folge hat. Im Nachhinein muss ich sagen: Perfektes Training! ;)
(Aufschrift auf der Ticketmaschine: "In case of CUTE problems, call..." *g* Oder hat da jemand das "A" weggeschabt?)

Endlich besteige ich den - im Übrigen sehr hübsch bemalten - Flieger der Varig...

**GliedERN, d.h. Beine, Arme. *g*

P.S: Wenn ihr wollt, könnt ihr meine Einträge kommentieren.
P.P.S: Durchdachtere Einträge mit ernsteren Kommentaren zu Land und Leuten folgen... (Hab hier doch recht viel Zeit zum Nachdenken)

Montag, 19. Juli 2004

Oi!

Hallo Leute!
Nur kurz: Dies wird ein Versuch eines Internet-Tagebuchs über meinen Aufenthalt in Porto Alegre, wo ich 3 Monate an der dortigen Uni arbeiten werde. Vielleicht probiere ich verschiedene Schreibstile aus, ich weiss es noch nicht. Nur schon die ersten 2 Tage habe ich jedenfalls genug (über-)lebt, um mehrere Seiten zu füllen. Momentan nagen aber leider der Jetlag und das Stückchen Schaumstoff (Auf Portugiesisch: Matratze) an mir, weshalb ich die Einträge noch etwas verschieben werde. Heute Abend jedenfalls: Churrascaria und Chopp. (Übersetzung: Rauhe Mengen an Fleisch und Bier)
Sollte dies mein letzter Eintrag bleiben, dann hat mich wohl ein Pfefferminzhühnerherzchen dahingerafft... (Manchmal gibt es Tage, da vermisse ich meine Gallenblase doch ziemlich ;) )