Frühmorgens um 7 schälen Mathias und ich uns aus den Betten, wie Orangen aus der Schale. Der Vergleich versagt dabei, dass wir über viel weniger, und angesichts des Regens, der an unsere Scheiben trommelt, viel zu wenig Vitamin C verfügen. Stöhnend stolpern wir in den amphibienfreundlichen Tag hinaus, im Wissen, dass in unserer ohnehin schon feuchten Wohnung die Kleider nun *noch* weniger schnell trocknen werden. Ich denke mir schon einige Sprüche aus, die ich dann als Moos-Man (à la Spiderman) jeglichen Verbrechern entgegenschmettern kann. Leider komme ich nicht über "Ampelgleich sich gibt mein Moos, bei Grün Du bleibst nicht prügellos!" hinaus, da sich in dem Moment, als ich den Satz zu Ende denke, mir schon ein Liter Wasser ins Gesicht geklatscht wird. Um positiv zu bleiben: Zum Glück habe ich mir nicht die Mühe gemacht zu Duschen.
Nach den ersten zwei Wochen Sonnenschein ist dieser Regen und die Kälte absolut surreal. Wurde ich über Nacht von Aliens an den Südpol geflogen, im Sinne eines Experiments? Habe ich gesündigt? (Gluttony comes to mind ;) )
Der Plan ist simpel:
Bus D43 zu Michelles (Sco'ish Girl) Wohnort, dann T7 bis zum Flughafen. Dann Mietauto bis Gramada.
Hannibal vom A-Team dazu: "Ich liebe es, wenn ein Plan gelingt!"
Ich und Mathias ebenfalls, und darum sinkt die Moral in der Truppe rapide, als wir nach 20 Minuten Wartezeit merken, dass der Bus heute nicht fährt. Kurzentschlossen springen wir in den nächsten Bus und geniessen ein paar Minuten ohne Vietnamesische Wasserfolter, bis wir merken, dass wir etwa 2 Kilometer an unserem Ziel vorbeirauschen, bis zum Busbahnhof (Rodoviaria). Total abgestumpft durch die konstanten Fehl- (oder Nicht-)Informationen des hiesigen Busbetriebs, steigen wir in ein Taxi - und fahren wieder zurück. Um es kurz zu machen: Wir treffen uns dann (leicht verspätet, öhöm) mit Michelle und flitzen zum Flughafen.
Meine Befürchtung, sie (Santi und Cristina, Spanien) könnten wegen unserer 3/4h Verspätung leicht genervt sein, löst sich in spanischer Nonchalance auf, als sie die Verspätung mit keinem Wort erwähnen. Wohl schon zu lange in Brasilien? :)
Auf dem Weg zum Flughafen freuten sich Mathias und ich schon aufs Auto und die integrierte Heizung, die uns in warmer, trockener Luft einhüllen wird, wie ein Badetuch in der Nivea-Werbung. Weit gefehlt! Schockiert starre ich im VW GOL auf die dunkle Plastikfläche, die völlig unbeeindruckt weiterhin flach und ohne wärmespendende Öffnung bleibt. Innerlich lache ich über meine Schockiertheit und denke, dass das alles nur ein Missverständnis ist. Sicher ist die Heizung in Brasilianischen Autos irgendwo unter dem Sitz montiert! Alles klar, es kann geheizt werden! Weit gefehlt, Teil II. Eine mit klammen Fingern durchgeführte Suche ergibt, dass Heizungen in Brasilianischen Autos nicht existieren.
Wir rauschen über die Autobahn. Und frieren still vor uns hin, während mich Gedanken an den nur 50 Zentimeter vor meinen klammen Beinen glühenden Motor quälen.
Cristina fährt. Und dies auf eine sichere Art. Sehr sicher. So sicher sogar, dass Grossmütter im Vergleich dazu wie rasende Teufel der sieben höllischen Autobahnen des flammenden Todes erscheinen. Wegen meiner exponierten Lage auf dem rechten Vordersitz ist es mir vergönnt, mich in den Mantel vorgetäuschten Schlafes zu hüllen, als es darum geht, einen Navigator zu erküren. Normalerweise habe ich nichts gegen diesen Job, im Gegenteil, ich schätze ihn sogar, auch wenn es heisst, dass man wegen eines winzigen Fehlers johlend mit Sprüchen eingedeckt wird.
Aber mit Cristina: Kompliziert. Nicht nur beharkt sie mich bei jeder winzigen Kreuzung mit diesem quieckenden "Que? Que? Florian, para onde vamos? Para onde? Que?" Wenn ich links sage, fährt sie rechts. Sage ich rechts, fährt sie links. Sage ich geradeaus, fährt sie über die nächste Klippe. ;)
Aber zum Glück bin ich zu erschöpft, um mich über diese kleinen Unzulänglichkeiten aufzuregen, und beginne mich, an sie anzupassen. D.h.: "rechts", "links", "Über die nächste Klippe, bitte".
Alle Wege führen nach Gramado, und schliesslich erreichen wir das Touristenparadies, das wie ein ein Kind von Davos (Schweizer Ferienort für reiche Deutsche) und Tübingen (Deutscher Ferienort für deutsche Studenten) aussieht.
Für die offenbar zahlreichen Fans ;) ausschweifender Essensbeschreibungen nun das Völlerei-Special:
Café Colonial!
Der Name deutet auf Kaffeegenuss auf der Veranda eines weissgestrichenen Kolonialgebäudes hin, nicht? Mit übereinandergeschlagenen Beinen geniessen wir den Sonnenuntergang, während uns die Meeresbrise den süssen Duft des Kaffees offeriert, der uns vom Dienstmädchen in edelstes Porzellan geleert wird. Wenn wir uns nach vorne beugen, antwortet unser Strohsofa mit einem leisen Knirschen. Die Konversation ist leicht, gleitet manchmal ins Süffisante ab, auch Politik wird diskutiert, und ob die nächste Eisenbahnlinie wohl durch unseren Landstrich führen wird. :)
HA! Nicht ganz! Café Colonial wird wie folgt gegessen. Ein Bild sagt tausend Worte:
Mampfmann & Völlermeister
Und das ist nur die Hälfte des Tisches! Und sobald einer dieser kleinen Teller auch nur ansatzweise sich zu leeren beginnt, rauscht ein Kellner quasi aus dem Nichts herbei, mit einem neuen Teller. Minimal eingeschüchtert beginnen wir zu essen...
Auf unserem hoffnungslosen Verdauungsspaziergang (hoffnungslos wegen der Verdauung) besuchen wir ein was immer es war, aus der Vorderseite des Hauses hängt ein Zug heraus, der dampft, und ab und zu sein sinnloses Dasein mit einem langen Pfeifen beklagt. Schliesslich noch ein Besuch in der Schokoladenfabrik, bei dem Cristina ihr eigenes Gewicht in Schokolade kauft. Schweizer Schokolade ist immer noch die Beste. (Ich entschuldige mich für diesen Satz, aber er musste gesagt werden. ;) Den ausländischen Mitlesern kann ich die Frigor von Cailler (?) empfehlen.)
Am Abend dann werfen wir uns ins durch und durch feuchte Nachtleben von Gramado. Wenn ich feucht sage, meine ich nicht etwa den Alkohol, der hier fliesst. Aber das konntet ihr euch schon denken, oder?
Ein gewisser Charly Garcia - ein argentinischer Altrocker - wird Abends ein Gratis-Konzert geben. Obwohl ich normalerweise auf Altrocker mit einem vor mich gehaltenem Kreuz und generös ausgeteiltem Weihwasser reagiere, ist doch die Anziehungskraft des Wortes "Gratis" für die mitkommenden Studenten zu stark. (P.S: Geht bitte nicht ein Bild von Charly Garcia anschauen. Ich habe schon für euch gelitten.)
Um die Zuschauer auf das Konzert einzustimmen, spielen Gaukler auf und diverse Gnome krabbeln durchs Publikum. Der See, auf dem die Tribüne aufgebaut ist, wird von diversen Lampen mit rotem und blauem Licht beworfen, die Bäume hinter uns grün beleuchtet. Zusammen mit den Schwan-Pedalos bietet sich uns ein bizarres Schauspiel.
Das Konzert beginnt fulminant! Nach einer Stunde Soundchecks verharren wir erwartungsvoll in Dunkelheit, während die Nässe und Kälte heimlich über die grüne Grenze meiner Schuhe einwandern. Das heisst, die braune Grenze, da Gras, trotz seiner mächtigen Eroberung der Erde, hunderten von Schuhpaaren nicht viel entgegenzusetzen hat. Schliesslich besinnen wir uns der russischen Regel, dass schon viele vor Kälte gestorben sind, aber niemand wegen Alkohol. Die Regel stimmt nicht, ich weiss, aber es ist mittlerweile so unbarmherzig kalt, dass ich mich freudig in die Arme des am Mittag noch gemiedenen übelst fruchtigen Gaùcho-Wein (Erdbeerlimonade mit Alkohol) werfe. Und es wirkt! :)
Bei Santi wirkt es sogar so gut, dass er sich nachher beim friedlichen Ums-Feuer-Sitzen gleich weiterwirft, diesmal in die Arme etlicher 40-jähriger Brasilianerinnen. Ähäm. Mehr wollt ihr nicht wissen, oder? ;)
Das Konzert endet übrigens damit, dass der Typ alles ins Wasser wirft, was er in die Hände bekommen kann, was wir aber schon lange nicht mehr mitkriegen, da ich zu der Zeit bereits wieder versuche, Cristina durch die Nacht zu dirigieren. (Mit der Hilfe von Mathias, Co-Navigator erster Klasse, auf den Cristina hört - oder den sie versteht, klappt das dann auch)
Zum Schluss noch dies, liebe Mitleser (HA! Eine Charles-Clerc-Tagesschau-Andeutung, nicht schlecht, was?), zum Schluss noch die: Bevor wir uns unter der grosszügig bereitgestellten Wolldecke (1 cm dick) in den Schlaf lullen, entdecken wir, dass die Duschen in der Jugendherberge nicht nur gänzlich ohne freiliegende Kabel, nein, sogar mit brühendst warmem Wasser aufwarten können!!! Mathias, Santi und ich geniessen ausgedehnt (separat!) das heisse Nass, und erst als Santis (amüsantes) Gebrabbel über Frauen und die "I am full of Love!"-Sprüche zu repetitiv werden, schleichen wir uns aus dem Duschraum. Das Glück ist uns hold als wir, genau im Moment in dem Santi noch zu singen beginnt, die Tür hinter uns schliessen, um in den Schlafraum "Schnarch City" zu flüchten...