Dienstag, 26. Januar 2010

Vom Rennen und gerannt werden

Als Kind tragen mich die Füsse überall hin – Nachmittage lang durch die Wälder in und um Erlenbach gestreift, das Tobel hoch und runtergerannt, im Garten von Steinplatte zu Steinplatte hüpfen, so schnell es geht. In den dunklen Stunden die 2km lange Lerchenbergstrasse hochgerannt, am besten in der Mitte der Strasse. (Wohl des überbordenden Lichts wegen, welches im Tobel nur so spärlich vorhanden ist, die Phantasie dafür umso grenzenloser die formbaren Büsche zur Maskerade bewegt)
Mit meinen Freunden war nur die maximale Geschwindigkeit schnell genug, um an neue Orte, zum Tennisspiel, zum Basketballplatz, und natürlich zu den Häusern der angebeteten Mädels zu kommen.

Die überaus einfache Formel des rennend, velofahrend Glück lautet wie folgt:
Glück (rennend) = Wind im Haar x vorbeiziehende Natur
Kein Glück entsteht hierbei nur, wenn entweder kein Wind das Haar umspielt, oder keine Natur vorbeizieht. Glatzenträger mögen ihre eigene Formel herleiten.

Später dann bemerkt eine meiner ersten Freundinnen: "Du rennst immer überall hin!" Zwar darf das "immer" getrost für später oft wiederholte Benutzung in die Welt der Östrogene gebettet werden, aber so ganz Unrecht hatte sie nicht. Treppen kann ich gar nicht anders als hochrennen – die Rolltreppe führt die Top Ten der Weltverbrechen an, kurz vor der Atombombe und verkochten Spaghetti.

20 Jahre später finde ich mich mitten in einem Halbmarathon wieder und frage mich: Was ist passiert? Zwar, ja, durchaus entstehen Glückgefühl im Danach und dem Davor. Aber muss es so mühselig sein? Muss man sich auf den Biss in eine erfrischende Zitrone bei der nächsten Verpflegungsstelle tatsächlich sooo freuen, weil man sonst nicht viel hat?

Was also ist passiert? Ich habe wieder einmal zuviel auf Leute gehört, von denen ich annahm, sie würden es besser wissen. Die und die Schuhe werden gebraucht. So muss gerannt werden. Und die Sportmedizin belegt… Dass vor 5 Jahren Stretching wichtig gewesen sein sollte, vor 4 wieder sogar schädlich, dann vor 3 unentbehrlich, vor zweien völlig irrelevant – vor einem Jahr dann definitiv Klarheit: Stretching ist bei Kälte so wichtig, weil einem sonst alle Bänder zerreissen, will man auch nur einen Zeh leicht anheben usw.
Dabei sind die Zeichen klar: Ich kaufe mir immer die härtesten Schuhe, die ich finden kann. Ich liebe Barfusswandern. Zu Hause tripple ich ebenso herum.

Irgendwann letzten Sommer lese ich von einem mexikanischen Indianerstamm, der für sein ausdauerndes Rennen bekannt sein soll. Aus der Wüste kommend, sollen sie einmal einen brutalen 100 Meilen Lauf gewonnen haben, um danach wieder quasi spurlos zurückzugehen. Ich bin fasziniert und entdecke die Welt der Ultramarathonläufer. Lese Geschichten von hart trinkenden Surfergirls, die am nächsten Tag lachend einen 100 Meilenlauf querfeldein bestreiten, nicht ohne dazwischen an den Verpflegungsstellen mit den Zuschauern Armzudrücken, oder das Baby zu füttern. Von Männern, die in der Wüste verschwinden, um zu rennenden Geistern zu werden. Von einem Jagdstil, der die Essenz der menschlichen körperlichen Vorteile erfasst. Zeitlupenvideos grosser Läufer.

Ein weiterer Puzzlestein fügt sich langsam aber stetig nahtlos ein. Es fühlt sich viel besser an, selbst nachzuforschen. Nächte lese ich mich in die neugeborenen Stunden: Vom Fuss, von grossen Menschen, vom Mut, mal etwas Anderes zu denken, "giving a shit".

Und renne. Renne, als wäre ich wieder Kind.