In einem zum Scheitern verurteilten Versuch, mein Tagebuch wieder auf den letzten Stand zu bringen, beginne ich nun, an zwei Fronten gleichzeitigzu schreiben. (Obwohl wohl jeder General, der eine Feder schwingen kann und über mehr als 2 Gehirnzellen verfügt, weiss, dass dies nur in einer Niederlage enden kann. Ich mach's mal wie Napoleon und halte mich immerhin einige Zeit über Wasser)
Im olympischen Geiste, der momentan herrscht, will ich mal von meinem all-morgendlichen Dekathlon berichten.Zur Ausnahme wieder mal ein blendender Tag, der verspricht, das Quecksilber über magere 15 Grad hinauszutreiben. Vertrauensvoll, ja fast naiv (dünner Pulli) werfe ich mich ihm freudig in die Arme, mit dem mulmigen Wissen im Hinterkopf, dass es schattige Zonen zu meiden gilt, in denen man ab und zu die Überreste der Menschen finden kann, die anderen blendenden Tagen ebenfalls zu voreilig ihr Versprechen abgenommen haben.(Dieser Text wurde übrigens mit äusserst klammen Fingern geschrieben *brrr*)
Der Dekathlon besteht aus den hier unter Studenten traditionellen 5 Sportarten: Buswinken, Realklauben, Bankdrücken (Eine reale Sportart?), Free-for-all-Kampfsport, und Marathinho.Es geht los mit Buswinken. Etwas nervös begebe ich mich zur Bushaltestelle, die um 7:45 morgens leider noch keine Zuschauer anzieht, die mir im Geheimen etwas helfen könnten, einen dieser gefürchteten 20 Tonnen schweren Monster "Ônibusia Antiquia" anzuziehen, und dann eigenhändig zu zähmen. Ein weisses Ungetüm rauscht heran. Noch kann ich die Ziel-Aufschrift nicht ausmachen: "343"? "Viamão"?, und nur wenige Zeit verbleibt, den Bus heranzuwinken, bevor er mich im Staub hustend zurücklässt. Es ist Viamão! Kann ich den nehmen? Die Kommentatoren sind unbarmherzig: "Der Schweizer Mitstreiter zögert! Das kostet ihn mehrere Hunderstelsekunden! Doch halt - eine Brasilianerin rückt unbemerkt von hinten an, und ... und schafft es!" (Und ich stelle mir vor, wie sie innerlich "GOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO-OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOL" schreien, wie immer, wenn Brasilien irgendwas erreicht ;) )Hinter mir steigt die ergraute, betagte Frau langsam ein, und ich spüre ihren genüsslichen, siegesberauschten Blick in meinem Nacken. Ich balle meine Faust und knurre ein Bisschen.
Der Nächste! Ich blicke mich um - niemand. Ja! Ich kann es schaffen. Schon lange bevor es nötig ist, hebe ich meinen Arme und rudere ihn mal schneller, mal langsamer. Jahaaa, ein Kribbeln steigt meinen Nacken hoch, der ist es, den hab ich. Doch warum sind die Fans so leise? Ehrfürchtige Erwartung eines absoluten Siegs? Oder stilles Leiden? Letzteres. Unbeeindruckt rauscht die D43 an mir vorbei, zu ihrer tatsächlichen Haltestelle. Ich überbrücke diese kleine Niederlage gekonnt, indem ich ungerührt weiterflattere. Und tatsächlich, eine 343 kommt quietschend neben mir zu stehen. Dankbar, allerdings nicht ganz mit mir zufrieden, steige ich ein. Ein minimaler Punkteabzug, als das Biest ohne Vorwarnung abrupt anfährt, und ich meine Balance nicht halten kann: 7,7. 8,1. 7,8.
Realklauben. Meine Paradesportart.Die Kommentatoren schieben einen kleinen Wissensblock ein, den sie swischen sich hin- und herschieben ("Jerry, wusstest Du, dass ...? Nein, Tom, aber dafür..."). Der Real existiert erst seit 1994! In den zehn Jahren davor gab es so zirka 6 Währungen (weiss hier fast niemand mehr so genau, schon gar nicht die Namen, was wohl alles sagt), die alle an galoppierender Inflation litten. Im Rekordjahr betrug diese 10'000%! Erst krakelte man mit Stiften weitere Nullen auf die Noten, dann schliesslich gab die Regierung spezielle "000"-Stempel heraus. 1994 kam Cardoso - vermutlich genau wegen "seines" Plans zur Gesundung der Brasilianischen Währung - an die Macht, und führte den Real ein, auf Parität, d.h. 1:1 zum US Dollar. Obwohl, auch hier höre ich Verschiedenes, z.B: dass er zu Beginn auf 1.30 US$ gewesen sein soll, und die Brasilianer daher scharenweise in die USA geflogen sein sollen, um sich dort mit Gütern einzudecken. Der Real hält sich bisher ziemlich gut.
Zu den Münzen und Noten! Ich habe hier noch nie eine Banknote über der 50er Denomination erblickt, und sollte eine existieren, wird wohl ihre Benutzung mit dem plötzlichen Auftauchen von schwarzgekleideten Sicherheitsleuten beantwortet (und diversen aufschrillenden Sirenen). Sonst: 20, 10, 5, 2, 1, die alle mit Bildern von Tieren geziert werden. Die Münzen sind problematischer. Es gibt alte und neue Münzen - die alten Münzen sind generell wunderhübsch silbern glänzend, die Neuen sehen bronzen, abgenutzt, und ziemlich dreckig aus. *g* Im Ernst! Die Münzen gibt es in den folgenden Denominationen: 1 Real, 50 Centavos, 25, 10, 5, 1. Der kleine aber feine Unterschied zu unserem System besteht darin, dass man hier einen 25er anstatt eines 20ers benutzt. Was ist besser, fragt ihr? Nun, ich werde keine Analyse durchführen, aber fragt euch doch mal, welche Zahlen von 1 bis 99 brauchen mehr Münzen in unserem, welche mehr im hiesigen System.
Danke, Tom! Nun zurück zum Wettstreit - der Teilnehmer ist schon furios am Realklauben. Es sieht so aus, als hätte er Pech - sein Portemonnaie ist nur spärlich mit Münzen ausgestattet. Wird er die 1.55 Real zusammenkriegen können? (Manchmal ist es zum wahnsinnig werden. Während ich in der Schweiz wie wild versuche, meine Rappen loszuwerden, versuche ich hier, sie - mit doppelter Wildheit - zu kriegen)Ich komme nur auf 85 Centavos, und ich besitze weder 1 Real-Note, noch Münze. HA! Eine 2 Reais Note! Siegeshungrig schiebe ich sie dem Kondukteur über den kleinen Tisch, der in der Mitte des Busses angebracht ist. Glück gehabt - eine 5 Reais Note wäre ebenfalls gegangen, aber eine 10, oder gar 20 Reais-Note? Höchstens zähneknirschend.
Ratternd dreht sich hinter mir das Drehkreuz, meinem Blick eröffnet sich dasselbe Bild, das sich einem Ölsardinengourmet beim Öffnen der Dose bietet...
Bankdrücken. Diese Sportart ist schnell erklärt. Die anderen drücken die Bänke, während ich mich mit 20 anderen in der Mitte des Ganges so zu arrangieren versuche, dass keine Nase in andere Achselhöhlen gesteckt wird. Ich nenne es Volks-Tetris :)
(Auf die erste Vorlesung um 8 in die PUCRS zu kommen, wie ich es tue, entspricht etwa Level 9. Mit dem kleinen Finger der linken Hand.)
Free-For-All-Kampfsport. Da ich mich in einem Bus befinde, der von Studenten zur PUCRS gefüllt ist, kommt diese Sportart nicht zur Anwendung. Normalerweise aber bin ich nicht so glücklich. Der Normalzustand besteht darin, dass ich mich noch in der Nähe des Drehkreuzes befinde, der Gang bis zum sich hinten befindlichen Ausgang prall gefüllt ist, und ich bei der nächsten Station aussteigen soll. Standardvorgehen? Nach dem üblichen Am-Seil-Ziehen, um dem Fahrer ein Aussteigen zu signalisieren, hat sich eine Mischung aus Brustschwimm-Technik und Crawl bewährt, von Wasserpolo-Unterwasser-Tritten begleitet, die man freigiebig austeilt. Vielleicht versuche ich morgen eine Matrix-Wandrenn-Technik?
Marathino. Von den begrüssenden Lautsprechern mit motivierender (obwohl ich der einzige Empfänger eines benevolenten Effekts zu sein scheine) Musik eingedeckt, jogge ich locker und siegesgewiss die letzten Meter zum IPCT...
Dienstag, 24. August 2004
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen