Sonntag, 25. Juli 2004

Die Sonne scheint auch im Norden

Ermutigt durch mein Shoppingcenterabenteuer entscheide ich mich, gleich als nächstes mich nach Downtown zu begeben. Wie schon seit meiner Ankunft ist es auch heute ein blendender (und gleichzeitig heisser) Tag und ich steige in meine geliebten Shorts, um mich auf den Weg zu machen.

Die Kamera habe ich aufgrund einiger gutgemeinter Ratschläge der Laborkollegen noch nicht dabei. Die Ratschläge nebenbei im Stile von: "Ach, Downtown ist überhaupt nicht schlimm, Du kannst meine Schrotflinte haben." Ok, nicht wirklich, aber es soll einige Diebe haben, und meine Kamera ist ein ziemlich grosses, glitzerndes Ungetüm.

Die Karte dazu übrigens ist hier zu finden:

http://n.ethz.ch/student/hankef/download/portoalegre/photos/040725_sonntagsausflug.jpg
(Ich entschuldige mich für jegliches Ungemach beim Lesen der Karte - ich verfüge hier gerade mal über Microsoft Paint, um die Karte zu bearbeiten. Die Distanzangabe fehlt übrigens, weil ich hier noch keine Karte erblickt habe, die über sowas verfügt. Der Grund dazu ist mir schleierhaft. Vielleicht eine angeborene Abneigung gegen Zahlen? Oder: "Ich hab ja ein Auto, ich brauch das nicht"?)


Der weisse Punkt mit dem roten Rand unten in der Mitte - da wohne ich. Rechts unten in der PUC arbeite ich, und wenn man dem roten Strich nach Westen folgt, kann man mir über die Schulter blicken, während ich unglaublichste Abenteuer erlebe! :)
(Ok, nicht wirklich...)

Das erste Abenteuer besteht darin, dass ich zum wiederholten Mal die alten Menschen vorbehaltenen Sitzen benutze (was mir aber erst eine Woche später klar wird) - und doch gleich von einem alten Mann harsch angeschnauzt werde. Ich erwidere seinen freundlichen Gruss und nicke dankend zurück. Dann wird er von seiner Frau angeschnauzt, die wohl offensichtlich erkannt hat, dass ich debil bin und darum einen Sitz bei den Alten mehr als verdient habe. Er schnauzt zurück, und irgendwie endet es in einem Streit, der einem stummen Anknurren ähnelt, bei dem der unfreiwillige Urheber sich beim Shopping Praia da Belas (Zweitgrösstes Shoppingcenter, inkl. Barbie-Contest, dazu später) aus dem Staub macht.
Ich bin ja nur dankbar, dass sie ihm nicht zugestimmt hat. Ich habe schon Angriffe von einzelner solcher wilden Bestien über mich ergehen lassen müssen. (Gehstöcke im Besitz alter Frauen sollten sowieso als tödliche Waffen eingestuft werden, finde ich.) Wer weiss, was passiert wäre, wenn sie mich zu zweit attackiert hätten?

Zusammen mit etwa 40% der 1,5 Mio. Einwohner zählenden Stadt werfe ich mich an die an der westlichen "Küste" gelegenen Park. Der "Park" besteht aus quasi 100% halbverdorrtem Gras und 0% Bäumen - ein typischer Winterpark, in dem im 35 Grad heissen Sommer keinerlei Hoffnung auf Schatten besteht. Im Winter wird hier aber rege gejoggt, flaniert, und vor der abartig riesigen Konzerttribüne gestanden. Auf der Konzerttribüne wird keine Musik gespielt, sondern es werden etliche Opfer aus dem Publikum öffentlich gefoltert. Ich bin nicht ganz sicher, aber hier die Fakten: Erst werden sie befragt, und dann wird einigen von ihnen von einem grinsenden fetten Showmaster etwas Hässliches (ein Plüschtier?) in die Hände gedrückt, worauf die Armen gottsjämmerlich zu Kreischen und Springen beginnen. Ich wende meine Augen davon ab und dem weiteren Weg zu. Die Ohren leider sind noch einen weiteren Kilometer der von etlichen 1000W Lautsprechern verbreiteten Kakophonie ausgesetzt.
Showmaster hier sind übrigens generell fett und abysmal unansehnlich - und um diese Konzentration an geballter Hässlichkeit auszugleichen, stellen die gewieften TV-Show-Produzenten jeweils mindestens 20 mutige schlanke, meist schöne Frauen direkt hinter die Abomination ins Bild. Das wirkt meist ausgleichend, manchmal aber ist der so verstärkte Kontrast ungleich schwerer auszuhalten.
Ihr seht, das Fernsehen hier ähnelt stark dem Italienischen. Minus ein Berlusconi. *g*

Die Strasse, die durch den Park führt, wird links und rechts von etlichen Ständen und Verkäufern begrenzt, die süsse Früchte, Süssigkeiten, süsse Fruchtsäfte, Fruchtsäfte mit Zucker, oder Fruchtsäfte mit mehr Zucker verkaufen. An Zucker mangelt es hier jedenfalls nicht - ich frage mich auch, ob denn Vampire sich zum Dessert des Öfteren einen Brasilianer schnappen. (Aromen sind hier alle vorhanden, von Vanille bis Schokolade ;) )

Eigentlich wollte ich ja mit dem Tagebuch stark aufholen, daher hurtig, hurtig voran!

Ich schreite also weiter auf der Karte nach "oben" (Für meine weiblichen Leser *g* Neinnein, die Erklärung folgt später), bis zur Usino do Gasometro ("Gasometerfabrik"?), ein Kulturzentrum. An einem lauen Sonntagnachmittag scheint aber die Kultur besonders aus Zuckerwatte und in Zucker gehüllte Nüsschen zu bestehen, weswegen ich dort nicht länger verweile, sondern quer nach Downtown eile.

Downtown Porto Alegre erinnert mich stark an Downtown Los Angeles: Von weitem locken glitzernd grosse Wolkenkratzer, kommt man aber näher, merkt man, dass die ersten drei Stöcke ziemlich schäbig und zerfallen aussehen, und man fragt sich, wie lange das Bauwerk noch zu stehen vermag. Überall auf den Strassen verkaufen Händler ihr Gut (ihr Schlecht?): Kopierte CDs inklusive Hüllen, billige T-Shirts, Schuhe, und die auf der Welt überall zu findenden Rastafari-Jamaikaner-Kappen.

Anhand der mittlerweile total zerfetzten Karte, die ich am Anfang von Rita ("Hita"), der Austauschstudenten-Halterin der PUCRS gekriegt habe, versuche ich mich zu orientieren. Aber egal, wohin ich gehe, irgendwie finde ich mich immer in der gegenüberliegenden Richtung wieder. Was ist passiert? Ich, der über einen - und ich bin stolz darauf - ziemlich guten Orientierungssinn verfüge, verläuft sich andauernd? Meine Selbstsicherheit stolpert kurz, kann sich aber kurz darauf noch knapp an einem Wissensstrohhalm fangen, der an einer vergessenen Klippe hervorlugt: Südlich des Äquators scheint die Sonne im Norden! "Elementary, my dear Flolmes!" werden einige von euch sagen, aber mein Gehirn hat irgendwie automatisch angenommen, die Sonne wäre im Süden. Keine Ahnung, wie ich das vorher gemacht habe - ich denke, ich hatte es nie nötig, da ich mich anhand der Strassen orientiert hatte.
Plötzlich jedenfalls orientiere ich mich ohne Weiteres, die Karte im Gehirn ist gedreht - es kann weitergehen.

Als Nächstes versuche ich, zum Park "Farroupilha" zu gelangen. Der Name vom Park kommt von einem Mann, der um 1870 herum nach Unabhängigkeit vom restlichen Brasilien strebte. Inklusive tausender Mitstreiter und zirka 20 Kanonen. Pech für ihn, dass die Armee Brasilien über mehr als hunderttausend Soldaten verfügte. Glück für ihn, dass sie etwas ineffizient vorgegangen sind. Ergebnis: Der Staat Rio Grande do Sul ist nicht unabhängig, aber die Menschen hier versuchen sich mit allen Mitteln vom Rest abzuheben. (Doch das ist ein dickes Thema für später einmal)
Der Park ist ziemlich schön - ebenfalls etwas am Zerfallen, aber ich gewöhne mich an den generellen Anblick. Auffällig sind die vielen Leute, die einem typischen Gaùcho-Hobby fröhnen: Dem Mate-Tee-Trinken. Die nicht etwa aus goldgeränderten Porzellantässchen, sondern aus braunen, gebrannten, ziemlich merkwürdig geformten Trinkgefässen. Oben ein Rand, auf dem das Teepulver balanciert wird, dann eine Verengung, um das Pulver oben zu halten - schliesslich unter eine Verdickung, um den Tee mit dem Wasser zu mischen. parallel zum Gefäss verfügen die Trinker über einen Thermoskrug mit heissem Wasser, das sie über den Tee auf dem Rand fliessen lassen. Aber nur über einen kleinen Teil, so dass sie immer weiter Wasser nachgiessen können. Zwischendurch wird getrunken. Dies durch einen metallenen Strohhalm, der am unteren Ende über einen Filter verfügt. Der Filter stoppt das aufgelöste Pulver und lässt nur den bitteren Tee durch.
Und wenn ich bitter sage, meine ich bitter. Ganz im Kontrast zu all den Süssigkeiten, mit denen man hier beworfen wird. Eine bittersüsse Kultur?

Im Park merke ich auch, wieso mich die Leute doch recht verwundert anschauen. Erst verdächtigte ich meine ungekämmte Frisur, dann aber folge ich den Blicken und merke, dass sie auf meine Knier zeigen. Vermutlich die einzigen freigelegten Knier in Porto Alegre! Alle anderen haben sich trotz der grossen Hitze in langen Hosen in die Sonne gelegt. Ist es zu merkwürdig, im Winter in kurzen Hosen durch den Park zu schlendern? Sind die Kleider hier nicht von der Temperatur, sondern von der Jahreszeit abhängig. (Eine weitere Woche an Beobachtungen in heissesten Temperaturen lassen mich das glauben...)

Irgendwann mache ich mich zum Shoppingcenter auf, bestaune mit Verwundern eine etwa 500 Meter lange Schlange aus kleinen Mädchen, die dann schliesslich im grossen Barbiehaus (aha!) in der Mitte des Zentrums führt. Im anderen Shoppingcenter gibt es dasselbe für grosse Mädchen - Modelagenturen und Makeupgeschäfte veranstalten täglich eine Show, bei denen normale (d.h. "normale" ;) ) junge Frauen sich ebenfalls in elendiglich lange Schlangen stellen, um irgendwann professionell geschminkt und gekleidet zu werden, um wenigstens für 15 Minuten die für sie glamouröse Luft des Modelings zu schnuppern. Ich hoffe mal, dass immerhin eine von ihnen den bitteren Geruch der Drogen und der Ausnützung wahrnehmen kann...

Zurück zum Center Praia de Belas: Etwas benommen vom langen Tag stehe ich vor dem McDonalds, und versuche mich mangels Alternativen für etwas zu entscheiden. Kaum habe ich die erste Zeile überflogen, springt mich schon die hilfreiche Frau, die dafür bezahlt wird, Menschen unter Kraftanwendung ("Charme" genannt) vor die Kasse zu schieben. Ich erkläre ihr, dass ich kein Portugiesisch spreche ("Não fala Portuguese"), was sie damit beantwortet, dass sie die restlichen Mitarbeiter vor mich schiebt. Das hilft nicht wirklich, um mich entscheiden zu können - besonders auch, weil diese ebenfalls nicht Englisch sprechen. Die Menschen sind generell sehr bemüht, einem zu helfen, oftmals hilft es aber einfach nicht, auch wenn man sich noch so bemüht! (Dann kann es einem doch recht auf die Nerven gehen) Schliesslich kritzle ich ein paar Esswaren auf einen Zettel und halte diesen vor die Verkäuferin. Victory, at last! :)
(Später beim Essen - d.h. als der Burger meine Geschmacksknospen erdrückt - merke ich, dass der Sieg ein Pyrrhussieg ist und ich schwöre mir, hier nicht mehr bei McDonalds einzukehren, auch wenn ich dort einigermassen bestellen kann)

So, in Kürze den Rest des Abends:
Ich lerne die Freundinnen von Mrs Suelé kennen, und wir versuchen uns auf Französisch und Italienisch zu unterhalten. Klappt ganz gut. Dann gucke ich noch bei einem Nachbar (ein Jurastudent) den Fussballmatch Brasilien-Argentinien, während er mir die Konjugationen des Portugiesisch beizubringen versucht. Klappt ebenfalls gut. Ein irrwitziges Spiel übrigens, als es (BRA-ARG) 0:1, dann 1:1, dann 1:2, und schliesslich in der Nachspielzeit 2:2 steht. Im Penaltyschiessen gewinnt Brasilien!
(Der Vulkan Porto Alegre bricht kurz aus, um dann für 3 Stunden nicht zu verstummen)

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