Am Vortag erhole ich mich den Rest des Tages, um mich von den Strapazen des bereits um 3 Uhr beginnenden Tages zu erholen - was in der Pousada Eckerlino kein Problem darstellt. In der flauschigen Hängematte, umgeben von diversen Fruchtbäumen und einer angenehmen Meeresbrise, ist es ein leichtes, sich zu entspannen, dafür umso schwerer, einen Arm dafür zu bemühen, sich ein Buch vor Augen zu halten.
Heute: Mit den lokalen Klimaanlagetraditionen eher schlecht vertraut, beginnt der Tag mit einem kleinen Schwumm durch einen See aus Schweiss und dem Versuch, nicht an diversen Möbeln klebenzubleiben. Das folgend eingenommene Frühstück beeindruckt: Nicht nur finden sich etliche Früchte, die ich noch am Vortag glücklich am Baum habe baumeln sehen, auch Tapioca (End-lich! :) ) und diverse Fruchtsäfte, wobei ich den Zitronengrastee besonders hervorheben möchte, hat er doch an allen folgenden Tagen dafür gesorgt, dass mein Gehirn morgens in Schwung kommt: "Was riecht denn hier so nach Zitrone?" (3 Sekunden Stille) "A-haaaaa!" ;)
Der heutige Tag gilt Salvador, einer Stadt übrigens - und davon handelt das heutige Thema - eine Stadt, die überquillt vor Heiligkeit. Etliche Kirchen kleben wie eine Napfschneckenkolonie auf dem Fels, die "Cidade Alta" ächzt unter Tonnen von Blattgold. Wie Sünder auf ihrem eher unbeschwingten Aufstieg zum Berg Golgotha tragen wir stöhnend, und nicht ohne unsere Schweissdrüsen überzubeanspruchen, unser Kreuz, das hoch und beständig über uns brennt, die "Strasse der Hilfe" den Berg hinauf. Militärpolizisten säumen unseren Weg, der endlos scheint. Trotzdem erreichen wir über den "Platz der Pietät" den Praça da Sé relativ unbeschadet (ohne umzufallen! <- Dazu später...), stellen unsere Kreuze salopp in die Ecke, um im kühlen Internetcafé unsere Mailboxen abzurufen und einen kühlen Maracujasaft zu geniessen.
Ist man erst im Gewirr der das Pelorinho-Viertel umgebenden Kirchen gefangen, gibt es keinen Ausweg! Ich gebe freimütig zu, dass ich auf Schulexkursionen immer gelb vor Neid an Esra vorbei in die Kirchen gezerrt (mental) werden musste - Juden dürfen nicht in Gotteshäuser anderer Religionen treten. Würde mich ja sehr interessieren, was sonst passieren würden? Würden sie in den Gazastreifen geworfen? Öffentlich von verkleideten und sich des öfteren verhaspelnden Frauen gesteinigt? (Weiss es jemand?)
Äusserlich sind die Kirchen zu bemitleiden. Die Natur erobert sich den ihren angestammten Platz zurück, auf den ehemals vielleicht leuchtenden Dächern wuchert Moos, vereinzelt lugt ein Baum hinter einem Kirchturm hervor. Um den Verfall aufzuhalten, hat man sich oftmals für die wohl billigste Methode entschieden: Ein gelb-roter Neonstreifen zieht sich um die wichtigsten Merkmale und verwandelt so ein ehemals ehrwürdiges Gebäude in etwas, was Christian "Karnevals-Kirche" nennt, und was mich unwillkürlich an das Verfahren erinnert, dem sich ältere Frauen mittels Makeup des öfteren unterziehen. Wie dem auch sei, das Endergebnis kann als inspirierter, aber hoffnungsloser Versuch abgetan werden, die Fassade neu erscheinen zu lassen.
Innerlich sind die Kirchen nur wenig besser in Stand gehalten, dafür umso besser gefüllt. Mit Menschen? Ha. Nein, mit etlichen Bildern und Statuen von Heiligen, Jesus, und anderen Mitwirkenden. Man könnte fast meinen, dass das Verbot, Bildnisse von Gott zu schaffen, dafür umso eifrig glühendere Anstrengungen in allen anderen Bereichen hervorbringt. Wie zum Beispiel von Jesus. Der Platz, um den sich im Kirchenviertel alles dreht, nennt sich "Terreiro de Jesus" (www.worldlingo.com übersetzt "Terreiro" überaus passend mit "Place of Fetichism"). Das ist nicht zuviel gesagt. Es scheint, dass die eher bodenständigeren und sehr (sehr? Nein: seeeeeeeehr) taktil veranlagten Bahianer mit der abstrakten Idee eines gesichtslosen, von ihren Problemen weit entfernten Gottes wenig anfangen können - dafür umso mehr mit seinem Sohn! In all den Kirchen, die wir besucht haben (Rosário dos Pretos - "Rosenkranz der Schwarzen", SS. Sacramento da Rua do Passo, Carmo e Ordem 3ª do Carmo, S. Francisco, Ordem 3ª do S. Francisco), findet sich kein Fleck, an dem uns nicht das bekannte, immer leicht schräg geneigte (wieso eigentlich?) Gesicht, vom zeitlosen Langhaarschnitt eingerahmt, entgegenblickt. Überall blenden mich perfekt lippenpolierte Fuss- und Handpaare von kleinen, an den Wänden befestigten, und auch nicht so kleinen (fast zum Kolossalen neigenden), Räume dominierenden Jesus-am-Kreuz Statuen, die äusserst liberal mit Blut versehen sind.
Die Entdeckung des Tages für mich persönlich ist die Ordenskirche vom S. Francisco, die jeglichen Besucher nicht nur per Qualität, sondern vor Allem mit der Quantität des Blattgoldes im Kircheninnenraum niederblendet. Die gesamte Kirche erstrahlt in goldenem Schein und es würde mich nicht wundern, würde die Kirche auch öfters des Nachts von zwar pietätslosen, aber umso hungrigeren Salvadorianern mit einem kleinen Schaber besucht werden. Was mich eigentlich noch mehr beeindruckt, ist der Kreuzgang gleich neben der Kirche. Jesus dominiert erneut. Diesmal so fest, dass seine "Erlebnisse" fast etwas zu detailliert dargestellt werden. Neben dem allseits beliebten "Jesus am Kreuz" gibt es 2x2 Meter grosse Bilder wie "Jesus fällt das erste Mal auf dem Weg nach Golgotha", und es hätte mich nicht überrascht, wären auch alle weiteren Ausrutscher und Stolpereien seinerseits gezeigt worden. ;) Des Weiteren stellen etliche, ziemlich grosse Wandzeichnungen die Regeln für Ordensbrüder bildlich dar. Bei einem Rundgang (im Kreuzgang?) bemerke ich amüsiert, dass die Franziskaner vor einige Herausforderungen gestellt wurden. Eine Maxime lautet zum Beispiel "Sei zufrieden mit was Dir beschieden!", eine andere "Strebe nach Ruhm!". Kein Wunder, stiessen sie bei solchen Widersprüchen ihre Habseligkeiten von sich und suchten Zuflucht auf der Strasse, um "sich an den Tisch des Herrns" zu setzen ;)
Von den freiwilligen Bettlern zu den anderen (und Strassenverkäufern). Kaum im Pelourinho angekommen, werden wir von diversen Personen bestürmt: Diese beliebten pinken Armbänder, Fotos mit *echten* Salvadorianerinnen in Urtracht, und jene überall zu kriegenden Halsbänder werden feilgeboten, quasi ins Gesicht gedrückt. Hier ein kleiner Auszug übrigens aus dem Dictionaire "Salvador Strassenverkäufer - Portugiesisch (NEU mit Zeichensprache!)":
"Não" bedeutet "Ja", "Não" mit horizontalem Zeigefingergewackel bedeutet "Ja!", "Não, não, não!", begleitet von Kopfschütteln, subtilem Zurückweichen, gefolgt von energischem Abwinken kann man nur als "Oh ja! Ich will alle Ketten kaufen!" deuten :)
Manchmal habe ich mit dem Tourismus meine liebe Mühe. Nur weil meine Vorgänger billige und dazu hässliche Glasketten, Rastahüte mit falschen Haaren, oder Che Guevara Shirts für die grösste kulturelle Entdeckungen seit langem hielten, muss ich unter dem Anstrum wehren, für den ich keineswegs etwas kann. Wieso konnten tausende von vorhergehenden Touristen nicht erfrischendes Kokosnusseis mehr schätzen, als alles, was ihnen aus Versehen angeboten wurde?
Ich will mich absolut nicht über die Bettler und Strassenkinder lustig machen, aber es begeben sich ein oder zwei (von vielen) erheiternde Treffen, die ich im O-Ton wiedergeben will. Zuerst der kleine Junge, der mit einem Schuhputzgestell und Bürste vor uns tritt, und uns blitzblank geputzte Schuhe anbietet. Bei soviel Enthusiasmus schiessen mir fast Tränen in die Augen, sind wir doch mit Sandalen bekleidet! Als ich ihm das klar mache, will er Geld, um Milch für seinen Bruder zu kaufen. Obwohl ich lieber - wenn schon - Milch kaufen gehen würde, gibt ihm mein Vater einen Real, worauf er sich beklagt, dass es nicht genug sei. Hm.
Dann der Mann mit dem speziellen Arm. Unschuldig gehe ich in der Mitte der Strasse, als ich seitlich mit dem Ausruf "Mira! Mira!" (sehe ich so Spanisch aus?) angefallen und am Arm ergriffen werde. Ich weiche aus und "mir"-e wie mir befohlen. Mehr als einen kleinen Mann kann ich nicht erblicken. "Oqueequtuqier?", krame ich mein bestes Gaúcho-Portugiesisch hervor, worauf er auf seinen Arm zeigt. Tatsächlich. Kleine weisse Flecken. Fragend beäuge ich ihn, eine mir helfende Erklärung erwartend. "Lepra", so seine mit Seitenblick geraunte Diagnose, die mich schweisserzeugend an die anfängliche Berührung zurückdenken lässt. Schliesslich zeige ich ihm aber mein von mehr als 40 Stichen (Bissen, so hier) durchlöchertes linkes Schienbein. Stille legt sich über unsere unmittelbare Umgebung, er meint mit einem bemitleidenden Gesichtsausdruck: "Também?" (Auch?)
An der Bushaltestelle dann der Mann, den ich schon öfters eine Kiste unter seinem Arm herum habe tragen sehen. Es stellt sich heraus, dass die Kiste seine Bescheinigung, HIV-Positiv zu sein, beinhält. Kaum ist er verschwunden, tritt ein Neuer an seine Stelle, diskutiert mit uns breit über lang, ob wir ihm Geld geben wollen. "Nein - wir haben schon genug Leuten Geld gegeben", so unsere Antwort, worauf er aufheult "Der vorher war ein Lügner! Das sind alles Lügner! Die kaufen sich nur Cachaça damit!", während mich eine bekannte Fahne umweht...
Ich muss aber dazu sagen, dass wir abseits der vom Tourismus pervertierten Strassen etliche sehr hilfreiche und nette Menschen kennenlernen. Im esoterischen Buchladen kramen sie extra für uns ein paar uralte Postkarten hervor, derweil mir der Seilbahnwärter die Aussicht über die Cidade Baixa erklärt. :)
Zum Geld geben muss ich noch anmerken, dass ich früher zwar gab, mittlerweile aber davon abgekommen bin - denn wo liegt die Motivation eines Bettlers, von der Strasse abzukommen, kriegt er von mir öfters Geld? In Brasilien ist das nicht so klar, denn ob sie - wie in der Schweiz - sonstwo hingehen können, ist gar nicht klar. Besonders bei den Strassenkindern habe ich ab und zu eine Ausnahme gemacht, meist mit kleinen Esswaren. Leider ist es so, dass hier Strassenkinder von ihren Eltern auf die Strasse geschickt werden, um einen fixen Betrag pro Tag zu sammeln. Wenn sie es nicht schaffen, dürfen sie nicht in die Schule oder werden sonstwie benachteiligt. Soll man Geld geben, oder nicht? Ich weiss es nicht. Die Eltern kriegen genug Geld zusammen, weil sie meist viele Kinder haben. Wie denkt ihr, werden es diese Kinder später machen - ebenfalls viele Kinder, die selbst auch betteln gehen?
Als Fazit des Tages kann ich nur sagen, dass ich mich mit Kirchenbesuchen etwas mehr angefreundet habe, als auch schon - speziell, weil mich katholische Kirchen (zwar wie üblich abstossen - visuell, da kitschig, und olfaktorisch) in letzter Zeit mehr zum Denken anregen. Z.B: Wer spendet das Gold in Kirchen, und warum wirklich - Gott zu huldigen (was bedeutete ihm/ihr dies?), oder sich selbst ein Denkmal zu setzen, weil sowieso alle wissen, wer es spendete? Wieso wählen soviele Leute Bush, weil er auch in die Kirche geht? Ein oftmals gehörter Kommentar lautete, dass es bedeute, er wäre darum ein besserer Mensch. Könnte es nicht sein, dass das starre Regelgefüge und die Sünden den "Genuss" (im weitesten Sinn) sogar verstärken, sollte man sündigen, was in dem Zusammenhang zu einem "schlechteren" Menschen führen würde? Warum hat die katholische Erziehung so viele gute Schriftsteller hervorgebracht? Was ist der Zusammenhang zwischen Armut und Katholizismus? Wer war zuerst? Wenn ich mir Zürich und Genf in der Renaissance ansehen, würde ich auf die Religion tippen. Könnte man dafür vielleicht die belebteren katholischen Städte auf die geniesserische Übertretung der Sünden zurückführen? Oder ist Letzteres zu simpel? Und liessen sich die damaligen Kirchenoberhäupter tatsächlich von den Sklaven hinters Licht führen, die unter dem Deckmantel der kirchlichen Feiertage weiter ihren Candomblé-Riten nachgingen, oder wussten sie es und waren mit dem äusserlichen Schein zufrieden?
Und: Warum sitze ich brütend im Dunkel der Kirche, während draussen Bahianische Lebensfreude (und "Gemütlichkeit") auf mich wartet? :)
Dienstag, 2. November 2004
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